Die enormen Herausforderungen Perus nach der Pandemie

Peru war die erste Station meines Besuchs. Über meinen Aufenthalt in Brasilien, das zweite Ziel dieser Dienstreise, werde ich in einem weiteren Blog-Eintrag berichten. Ich habe oft betont, dass die EU Lateinamerika nicht ausreichend Beachtung schenkt. Seit 2015 hat kein Gipfeltreffen mit Lateinamerika stattgefunden, und in den letzten neun Jahren hat es keinen hochrangigen Besuch gegeben. Und doch haben europäische Unternehmen mehr in Lateinamerika investiert als in China, Russland, Japan und Indien zusammen. Millionen unserer Bürgerinnen und Bürger leben dort und genauso viele Südamerikanerinnen und Südamerikaner leben in Europa. Lateinamerika ist eine der Weltregionen, mit der wir kulturell und historisch am engsten verbunden sind.
Andere Weltmächte investieren derzeit viel in Lateinamerika
Auch wenn wir Lateinamerika nicht genügend Aufmerksamkeit widmen, gilt dasselbe nicht für andere Weltmächte. Vor allem China hat sich zum wichtigsten Handelspartner zahlreicher Länder der Region entwickelt und hat in den letzten Jahren massiv investiert – nicht nur in die Wirtschaft, sondern auch in die Politik. Die Europäische Union muss aktiver werden und engere wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Lateinamerika knüpfen. Ich hoffe, dass mit dieser Reise bereits vor dem Treffen der Führungsspitzen der EU und Lateinamerikas Anfang Dezember eine Trendumkehr angestoßen wird.
Peru – das weltweit am stärksten betroffene Land
Gemessen an den Todesfällen im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist Peru das weltweit am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffene Land. Dies ist insbesondere auf den schlechten Zustand des Gesundheitssystems Perus zurückzuführen, in dem es an Sauerstoffkapazitäten und Intensivbetten mangelt. Das Land wird schon seit vielen Jahren von zahlreichen Krisen und Problemen in seinem öffentlichen Raum geprägt. Während des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens (2021-2027) wird Peru das Land sein, für das wir die EU-Unterstützung am stärksten erhöhen werden, insbesondere im Gesundheitssektor.
Die Schulen in Peru werden erst jetzt langsam wieder geöffnet, nachdem sie zwei Jahre lang geschlossen waren. Die Folgen für die Zukunft könnten gravierend ausfallen. Was die Wirtschaft betrifft, so haben sich die anhaltenden Ausgangsbeschränkungen verheerend auf ein Land ausgewirkt, in dem es kein entwickeltes Sozialsystem gibt. Die meisten Wirtschaftstätigkeiten finden im informellen Sektor statt und werden von Menschen ausgeübt, deren Lebensgrundlage davon abhängt, dass sie jeden Tag zur Arbeit gehen können. Diese Krise hat nicht nur dazu geführt, dass die bereits zuvor sehr starken Ungleichheiten zugenommen haben, sondern auch dass die Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen drastisch angestiegen sind, wie uns bei Treffen mit nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen berichtet wurde.
„Diese Krise hat nicht nur dazu geführt, dass die bereits zuvor sehr starken Ungleichheiten zugenommen haben, sondern auch dass die Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen drastisch angestiegen sind.“
Unser Besuch fiel außerdem in eine schwierige politische Phase für Peru. Präsident Pedro Castillo, Kandidat der linksgerichteten Partei Perú Libre, war Ende Juli gerade erst gewählt worden. Als Lehrer in der abgelegenen Region Cajamarca gehörte er nicht zur traditionellen politischen Klasse Perus und war bis vor wenigen Monaten auf nationaler Ebene praktisch unbekannt. Präsident Castillo verkörpert den Wunsch, das Gleichgewicht in einem Land wiederherzustellen, das sowohl in sozialer als auch in territorialer Hinsicht äußerst ungleich ist, wie das riesige Ballungsgebiet Lima und die armen ländlichen Gebiete, die sich vernachlässigt fühlen, zeigen. Da das Wahlergebnis sehr knapp war, wurde seine Legitimität als Präsident von Teilen der Opposition infrage gestellt. Die Wahl wurde jedoch von einer Wahlbeobachtermission der EU beaufsichtigt, die zu dem Schluss kam, dass die Wahl frei und fair abgelaufen ist und Pedro Castillo rechtmäßig gewählt wurde. Bei einem Treffen mit María del Carmen Alva, Präsidentin des Kongresses und Mitglied der Opposition, hatte ich die Gelegenheit, über den Bericht der Wahlbeobachtermission zu sprechen.
„Präsident Castillo verkörpert den Wunsch, das Gleichgewicht in einem Land wiederherzustellen, das sowohl in sozialer als auch in territorialer Hinsicht äußerst ungleich ist, wie das riesige Ballungsgebiet Lima und die armen ländlichen Gebiete zeigen.“
Pedro Castillo hatte sein Amt zwar am 28. Juli angetreten, war aber während unseres Aufenthalts in Peru mit einer schweren sozialen und politischen Krise konfrontiert. Die tiefen gesellschaftlichen Konflikte stehen im Zusammenhang mit den negativen Umweltauswirkungen des Bergbaus, der für die peruanische Wirtschaft von grundlegender Bedeutung ist. Außerdem musste Pedro Castillo nach nur zwei Monaten im Amt seinen Premierminister auswechseln. Die neue Premierministerin Mirtha Vásquez musste sich am 4. November, dem Tag nach unserem Besuch, einem Vertrauensvotum des peruanischen Kongresses stellen. Während unseres Besuchs in Lima musste auch der Innenminister sein Amt niederlegen.
Trotz der internen Krise in Peru wurden wir von Präsident Castillo und allen, die er zu dem Treffen mit uns eingeladen hatte, herzlich betreut. Dazu gehörten sein Außenminister Oscar Maúrtua, ein erfahrener Diplomat, sein Wirtschafts- und Finanzminister Pedro Francke, ein renommierter Professor für Wirtschaftswissenschaften, sein Minister für Handel und Tourismus Roberto Sánchez Palomino und andere politische Führungspersönlichkeiten, darunter die Gouverneure der Regionen Ayacucho, Cajamarca, La Libertad und San Martín.
„Ich war beeindruckt von Präsident Castillos Entschlossenheit, die Ungleichheiten zu bekämpfen und die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern, wobei er auf seine eingehende Kenntnis der Lage infolge seiner langjährigen Erfahrung vor Ort aufbaut.“
Als ich Präsident Castillo traf, war ich beeindruckt von seiner Entschlossenheit, die Ungleichheiten zu bekämpfen und die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. Diese Entschlossenheit beruht nicht unbedingt auf einem ideologischen Ansatz, sondern eher auf seiner eingehenden Kenntnis der Lage infolge seiner langjährigen Erfahrung vor Ort. Er ist sich darüber im Klaren, dass die politische Polarisierung eine Gefahr für die Stabilität des Landes darstellt. In dieser Hinsicht ist seine Entscheidung, erfahrene und qualifizierte Personen wie die Minister Maúrtua und Francke hinzuzuziehen, sehr beruhigend.
Das schwierige Thema höherer Steuereinnahmen
Mit Pedro Francke, Perus Wirtschafts- und Finanzminister, erörterten wir die tiefgreifenden strukturellen Schwierigkeiten, mit denen Peru konfrontiert ist, insbesondere im Zusammenhang mit den öffentlichen Finanzen: Peru hat eine Steuerquote in Höhe von rund 15 % des BIP und damit die niedrigste in Lateinamerika. Um die sozialen und territorialen Ungleichheiten abzubauen und öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, muss die Regierung von Pedro Castillo diesen Anteil erheblich steigern. Dies ist aus politischer Sicht immer ein schwieriges Unterfangen. In einem Land, das derart polarisiert und gespalten ist wie Peru, wird es zweifellos eine gewaltige Herausforderung sein. Ich habe Minister Francke von meinen Erfahrungen als spanischer Staatssekretär für Finanzen in den 80er-Jahren berichtet, als wir dort ein modernes Steuersystem zur drastischen Verringerung von Steuervermeidung geschaffen haben. Ferner habe ich ihm geraten, weiterhin eine offene Wirtschaft zu unterstützen, mit der ausländische Direktinvestitionen angezogen werden können.
„Um die sozialen und territorialen Ungleichheiten abzubauen und öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, muss die Regierung von Pedro Castillo die Steuereinnahmen erheblich steigern. Dies ist immer ein schwieriges Unterfangen. In einem Land, das derart polarisiert und gespalten ist wie Peru, wird es zweifellos eine gewaltige Herausforderung sein.“
Seit 2013 haben wir ein Handelsabkommen mit Peru. Alle unsere Gesprächspartner, einschließlich des Handelsministers und der Gouverneure der Regionen, betonten, wie wichtig dieses Abkommen ist und wie es dazu beigetragen hat, die Produktion und die Ausfuhren vieler kleiner und mittlerer Unternehmen, insbesondere der Erzeuger von Quinoa, Kaffee und Kakao, zu steigern. Das Abkommen enthält auch eine Menschenrechtsklausel. Ich habe mich mit Vertreterinnen und Vertretern peruanischer nichtstaatlicher Organisationen getroffen, die mir die Bedeutung dieser Klausel bestätigen konnten, da sie ihnen als Druckmittel dafür dient, um vor Ort tätig zu werden und die Achtung der Grundrechte in dem Land zu verbessern, wo dies häufig noch immer problematisch ist. Peru ist daher ein gutes Beispiel dafür, wie diese Art von Abkommen für beide Seiten vorteilhaft sein kann, und zwar nicht nur auf rein wirtschaftlicher Ebene, sondern auch im Hinblick auf die Achtung der Grundrechte der Menschen.
„Peru ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Handelsabkommen für beide Seiten vorteilhaft sein kann, und zwar nicht nur auf rein wirtschaftlicher Ebene, sondern auch im Hinblick auf die Achtung der Grundrechte der Menschen.“
Ferner haben wir uns mit dem Thema Drogenproduktion und -handel befasst, das in Peru Anlass zu großer Sorge gibt. Die EU und Peru haben in diesem Zusammenhang Kooperationsmechanismen eingerichtet, wobei wir darüber beraten haben, wie wir sie weiterentwickeln können. Beeindruckt war ich auch, als ich erfuhr, dass Peru – ein Land mit 33 Mio. Einwohnern – trotz seiner eigenen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten 1,3 Mio. Flüchtlinge aus Venezuela aufgenommen hat.
„Das bewegendste Ereignis war für mich der Besuch des Distrikts Chorrillos, eines Vororts von Lima, wo ich eine Gruppe von Frauen getroffen habe, die dank der Unterstützung der Europäischen Union einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen können.“
Neben den offiziellen Treffen war für mich das bewegendste Ereignis in Peru der Besuch des Distrikts Chorrillos, eines Vororts von Lima, wo ich eine Gruppe von Frauen getroffen habe, die dank der Unterstützung der Europäischen Union einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen können. Ich konnte mit eigenen Augen das Ausmaß der Probleme im Wohnungsbau und in der Stadtplanung des riesigen Stadtgebiets von Lima sehen, wo mehr als zehn Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung des Landes – leben. In vielen Stadtteilen sind die Wohnverhältnisse noch immer prekär, und es wird keine oder nur eine sehr eingeschränkte Grundversorgung bereitgestellt.
Die vom Leuchtenden Pfad in Peru hinterlassenen Wunden
Ich konnte mir auch ein Bild davon machen, wie tief die Wunden noch sind, die die Gewalt der letzten Jahrzehnte in Peru zurückgelassen hat. Dieses Projekt ist eine Initiative von indigenen Frauen aus der Region Ayacucho auf dem Altiplano. Sie sind nach Lima geflohen, um dem Konflikt zwischen den Terroristen der Guerillaorganisation Leuchtender Pfad, die die Region als Stützpunkt nutzte, und der peruanischen Armee zu entkommen, die sich bei der Bekämpfung der Guerilla zahlreicher Übergriffe schuldig gemacht hat. Obwohl der Leuchtende Pfad vor etwa zwanzig Jahren besiegt wurde, hat diese schmerzhafte Geschichte tiefe Wunden hinterlassen, womit die noch immer anhaltende Polarisierung des Landes teilweise erklärt werden kann.
Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und dabei die Kultur ihrer Vorfahren zu pflegen, fertigen und verkaufen diese Frauen hochwertige traditionelle Malereien auf Holztafeln, sogenannte Sarhua-Tafeln (externer Link). Die COVID-19-Pandemie und die Ausgangsbeschränkungen haben sich erheblich auf ihre Arbeit ausgewirkt, aber ihre Beharrlichkeit und Solidarität halfen ihnen dabei, diese Zeit zu überstehen. Ich bin stolz darauf, dass die EU dazu beigetragen hat, es diesen Frauen zu ermöglichen, dieses wirtschaftlich und kulturell sehr wertvolle Handwerk fortzuführen.
Mein erster Besuch in Peru als Hoher Vertreter hat mir die beiden enormen Herausforderungen vor Augen geführt, mit denen Lateinamerika nach der COVID-19-Krise konfrontiert ist: die Bekämpfung sozialer und territorialer Ungleichheiten und das Erreichen politischer Stabilität. Darüber hinaus wurde mir deutlich, wie wichtig es ist, dass wir den hohen Erwartungen gerecht werden, die die Region in die Europäische Union setzt.
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