Schulden: Warum wir dringend eine globale Aufbauinitiative brauchen

„Um einen Anstieg der Armut und der globalen Instabilität zu verhindern, müssen wir uns schnell des immer erheblicheren Schuldenproblems einiger Entwicklungs- und Schwellenländer annehmen, das durch COVID-19 entstanden ist.“
Die wachsende Verschuldung vieler armer Länder und Länder mit mittlerem Einkommen ist Grund zur Besorgnis. Zwar sind die Industrieländer sehr hart von der COVID-19-Pandemie getroffen worden, aber die Entwicklungs- und Schwellenländer haben viel weniger haushaltspolitischen Spielraum, um die Folgen zu bewältigen. Zudem ist es viel schwerer für sie, Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten. In einigen Fällen kam es bereits zum Zahlungsausfall bei den Auslandsschulden. Wenn wir diese Schuldenfrage nicht schnell bewältigen können, werden die weltweite Armut und Instabilität höchstwahrscheinlich zunehmen. Es könnte sogar zu einer neuen globalen Finanzkrise kommen.
An unserer Diskussion mit Kommissarin Jutta Urpilainen und den Entwicklungsministern nahmen außerdem die Geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (externer Link) (IWF) Kristalina Georgieva, der Präsident der Europäischen Investitionsbank (externer Link) (EIB) Werner Hoyer, die neue Präsidentin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (externer Link) (EBWE) Odile Renaud-Basso und der Vorsitzende des Pariser Clubs (externer Link) Emmanuel Moulin teil. (Der Pariser Club koordiniert den Umgang mit den Schulden überschuldeter Staaten). Auch der EU-Kommissar für Wirtschaft, Paolo Gentiloni, der die EU bei den Treffen der Finanzminister der G20 vertritt, teilte seine Erkenntnisse mit uns.
Düstere Aussichten für die Weltwirtschaft
Kristalina Georgieva schilderte uns düstere Aussichten für die Weltwirtschaft. Mittlerweile wissen wir mit Sicherheit, dass wir es mit der schlimmsten Rezession seit der großen Depression zu tun haben. Der IWF geht davon aus (externer Link), dass das weltweite BIP im Jahr 2020 um 4,4 % schrumpfen wird. Für 2021 rechnet man mit einer teilweisen Erholung, unter der Annahme, dass sich die Hoffnungen auf einen Impfstoff verwirklichen. Diese Erholung wird jedoch ungleich verteilt, anfällig für Rückschläge und für die Entwicklungsländer wahrscheinlich besonders schwierig sein.
„Zum ersten Mal seit Jahrzehnten geht die Armut nicht mehr zurück: 90 Millionen Menschen fallen in die extreme Armut zurück.“
In den Entwicklungsländern mit niedrigem Einkommen schrumpft das BIP in diesem Jahr schätzungsweise um mehr als 1 %, obwohl diese Gruppe in den letzten zwanzig Jahren ein durchschnittliches Wachstum von über 5,5 % pro Jahr verzeichnen konnte. Als Folge wird die Armut zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht mehr zurückgehen: 90 Millionen Menschen fallen in die extreme Armut zurück. Die Industriestaaten haben dieses Jahr einschließlich Darlehen und Garantien 20 % ihres BIP für die haushaltspolitische Unterstützung der Wirtschaft eingesetzt, Schwellenländer hingegen 6 % ihres BIP und arme Länder nur 2 % ihres BIP.
Dieses Jahr hat der IWF 82 Ländern finanzielle Unterstützung gewährt, von denen 47 zu den Entwicklungsländern mit niedrigem Einkommen gehören. In Afrika hat der Fonds seine durchschnittlichen Darlehen verzehnfacht. Dennoch wird der Kontinent laut Schätzungen des IWF vor einer Finanzierungslücke von 345 Mrd. USD stehen, davon 295 Mrd. USD in den Ländern südlich der Sahara. Wir müssen diese Lücke schließen, nicht nur durch institutionelle Unterstützung; wir müssen auch die Voraussetzungen für ein Engagement der Privatwirtschaft schaffen.
„Afrika wird vor einer Finanzierungslücke von 345 Mrd. USD stehen, davon 295 Mrd. USD in den Ländern südlich der Sahara.“
Der IWF wird seine Darlehenskapazität ausbauen. Die EU beteiligt sich mit 183 Mio. EUR am Treuhandfonds für Katastropheneindämmung und Katastrophenhilfe (externer Link) (Catastrophe Containment and Relief Trust – CCRT), mit dem die Schuldenlast der 29 ärmsten und am stärksten gefährdeten Länder erleichtert werden soll. Der IWF zählt jedoch nach wie vor darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten mehr Mittel für den Treuhandfonds für Armutsbekämpfung und Wachstum (externer Link) bereitstellen. Die Kapazität des IWF für Darlehen für die bedürftigsten Länder ist begrenzt. In Fällen wie diesem ist der Kapazitätenaufbau genauso wichtig wie finanzielle Unterstützung. Kristalina Georgieva schlug daher vor, dass die EU diesem Aspekt Vorrang einräumt. Die EU und die mit ihr verbundenen Entwicklungsbanken sind entschlossen, dabei eng mit dem IWF zusammenzuarbeiten.
Verschnaufpause für die ärmsten Länder
Der Schuldenstand vieler Entwicklungsländer mit niedrigem Einkommen war schon vor der Pandemie beunruhigend. Die im April ins Leben gerufene Initiative der G20 zur Aussetzung des Schuldendienstes (DSSI) (externer Link) konnte den ärmsten Ländern eine kurze Verschnaufpause verschaffen. Ursprünglich sollte die Initiative bis Ende des Jahres laufen. Im November hatten 46 Länder die Teilnahme beantragt, was in diesem Jahr zu Zahlungsaufschüben in Höhe von rund 5,7 Mrd. USD geführt hat.
„In Argentinien kam es im vergangenen Mai erneut zum Zahlungsausfall, in Sambia am 13. November. Dadurch verschärft sich das Risiko einer Spirale des Staatsbankrotts, vor allem in Afrika.“
Dies reicht jedoch offensichtlich nicht aus. Außerdem gab es bisher keine nennenswerte Beteiligung der Privatwirtschaft. In Argentinien kam es im vergangenen Mai erneut zum Zahlungsausfall. in Sambia am 13. November. Dadurch verschärft sich das Risiko einer Spirale des Staatsbankrotts, vor allem in Afrika. Dies könnte früher oder später zu einer weiteren globalen Finanzkrise führen.
Zusätzliche Maßnahmen der G20
Daher haben die G20 auf Ersuchen insbesondere der Union und ihrer Mitgliedstaaten zusätzliche Maßnahmen ergriffen. Zum einen wurde die Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes bis Juni 2021 verlängert, mit Möglichkeit auf eine Verlängerung um sechs weitere Monate – darüber wird auf der nächsten Frühjahrstagung des IWF entschieden. Zum anderen haben die G20 und der Pariser Club sich auf einen „Gemeinsamen Rahmen zum Umgang mit Schulden über die DSSI hinaus“ (externer Link) geeinigt, mit dem der Umschuldungsprozess begonnen werden kann.
„China hat den neuen Grundsätzen der G20 für den Umgang mit Schulden zugestimmt – ein wichtiger Schritt nach vorne. Nun bauen wir darauf, dass alle Partner in diesem Bereich sich ähnlich motiviert und engagiert zeigen.“
In den letzten Jahren ist China zu einem sehr wichtigen Gläubiger für viele Entwicklungsländer geworden, insbesondere in Afrika. Die Volksrepublik ist jedoch kein Mitglied des Pariser Clubs und hat sich zuvor nicht sehr aktiv in der Schuldenfrage engagiert. China hat den neuen Grundsätzen der G20 für die Schuldenbehandlung zugestimmt – ein wichtiger Schritt nach vorne. Nun bauen wir darauf, dass alle Partner in diesem Bereich sich ähnlich motiviert und engagiert zeigen.
EU will weltweit noch weiter gehen
Wir möchten jedoch noch einen Schritt weiter gehen: Die EU setzt sich dafür ein, den Gemeinsamen Rahmen der G20 zum Umgang mit Schulden auf Länder mit mittlerem Einkommen auszuweiten, die bedürftig sind. Wir setzen uns auch für eine neue allgemeine Zuweisung der Sonderziehungsrechte (SZR) (externer Link) ein, einer vom IWF vergebenen internationalen Währung, um den durch die Krise entstandenen Bedarf zu bewältigen.
Um Europas Gewicht auf der Welt in dieser entscheidenden Frage zu erhöhen, müssen wir außerdem verstärkt als das Team Europa auftreten, in dem die Stärken unserer Mitgliedstaaten und der Union vereint werden. Im Alleingang haben die Mitgliedstaaten der EU keinen echten Einfluss. In Senegal hält das Team Europa beispielsweise insgesamt 9 % der Auslandsverschuldung, was dem Anteil entspricht, den China alleine hält.
„Einerseits müssen wir Ländern mit niedrigem Einkommen, vor allem in Afrika, den Vorrang einräumen; andererseits verdienen einige Länder mit mittlerem Einkommen, die vor großen Herausforderungen stehen, ebenfalls besondere Aufmerksamkeit.“
Auf unserer Tagung waren sich alle Mitgliedstaaten einig, dass diese Probleme höchste Priorität haben. Einige von ihnen betonten, dass wir schnell von der Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes und der „Verschnaufpause“, die wir dadurch schaffen, zu einer tieferen Umstrukturierung in manchen Ländern und in vielen Fällen weiteren finanziellen Hilfen übergehen sollten. Einerseits müssen wir Ländern mit niedrigem Einkommen, vor allem in Afrika, den Vorrang einräumen; andererseits verdienen einige Länder mit mittlerem Einkommen, die vor großen Herausforderungen stehen, besonders in Lateinamerika, ebenfalls besondere Aufmerksamkeit.
Ich habe schon oft meine Überzeugung geäußert, dass wir eine Initiative zur Schuldenentlastung auf multilateraler Ebene (vor allem über die G20 und den Pariser Club) sowie koordinierte diplomatische und wirtschaftliche Anstrengungen brauchen, wenn wir eine regelrechte Schuldenkrise verhindern wollen. Ein Schuldenerlass allein reicht jedoch nicht aus; er muss Teil eines neuen Modells der nachhaltigen Finanzierung sein, insbesondere in Afrika.
„Schuldenerlass muss Teil eines neuen Modells der nachhaltigen Finanzierung sein. Die Forderung der EU nach einer globalen Aufbauinitiative, bei der Schuldenerlass mit Investitionen verbunden wird, spielt eine Schlüsselrolle.“
Damit die Ungleichheiten nicht weiter zunehmen, müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass die Zukunft grün und inklusiv gestaltet wird und dass die Digitalisierung allen zugutekommt. Die Forderung der EU nach einer globalen Aufbauinitiative, bei der Schuldenerlass mit Investitionen verbunden wird, spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Schuldenproblem noch lange nicht gelöst
Das Thema der Schuldentragfähigkeit vieler Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen dürfte uns noch monatelang beschäftigen. Sicher stehen wir vor erheblichen inneren Problemen, doch unsere Handhabung dieser Angelegenheit – in enger Koordination mit unseren Mitgliedstaaten – wird entscheidenden Einfluss auf Europas künftige Rolle in der Welt und vor allem auf seine Beziehungen zu Afrika haben.
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