Libanon verdient Besseres

22/06/2021 – HR/VP Blog – Libanon versinkt weiter in einer sehr schweren Krise. Das Land braucht dringend eine Regierung, die die Abwärtsspirale stoppt und die notwendigen Reformen in Angriff nimmt. Am 19. und 20. Juni habe ich Libanon besucht, um mit den Entscheidungsträgern des Landes und führenden Persönlichkeiten der libanesischen Gesellschaft zu sprechen.

Das Land braucht dringend eine Regierung, die die Abwärtsspirale stoppt und die notwendigen Reformen in Angriff nimmt. Sobald dies der Fall ist, werden wir unsere Unterstützung verstärken.

In den letzten Wochen waren wir mit mehreren offenen Krisen konfrontiert: den beunruhigenden russischen Manövern an den Grenzen der Ukraine, den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Israel und der Hamas oder der skandalösen Entführung eines europäischen Flugzeugs in Belarus... Wir müssen natürlich ständig auf solche Notfälle reagieren.

 

Es ist jedoch wichtig, dass wir auch den Krisen Aufmerksamkeit schenken, die in Europa keine Schlagzeilen machen, die sich aber, wenn man sie schwären lässt, zu offenen Krisen entwickeln könnten. 

 

Es ist jedoch wichtig, dass wir auch den Krisen Aufmerksamkeit schenken, die in Europa keine Schlagzeilen machen, die sich aber, wenn man sie schwären lässt, zu offenen Krisen entwickeln könnten. Dies gilt insbesondere für die schwere Krise, die Libanon seit mehr als einem Jahr durchlebt. Sie schafft bereits jetzt eine dramatische Situation für die direkt betroffenen Menschen und droht gleichzeitig, die Region zu destabilisieren und auch die EU zu tangieren. Ich habe das Land am 19. und 20. Juni besucht, um zu versuchen, einen Beitrag zur Deeskalation zu leisten. Anschließend haben wir das Thema am vergangenen Montag auf der Tagung des Rates der Außenminister der EU erörtert.

Die Katastrophe in Beirut am 4. August 

Jeder erinnert sich daran: Am 4. August vergangenen Jahres wurde die Stadt Beirut durch eine gewaltige Explosion im Hafen weitgehend zerstört. Diese Katastrophe ereignete sich bereits vor dem Hintergrund einer anhaltenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise aufgrund schwerwiegender Funktionsstörungen des libanesischen Staates. Diese bereits bestehenden Schwierigkeiten haben sich durch die Folgen der Syrien-Krise noch verschärft: Die rund 1,5 Millionen Flüchtlinge, die seit 2011 aus dem Nachbarland kommen, machen heute fast ein Viertel der libanesischen Bevölkerung aus (insgesamt 40 % der Einwohner des Landes sind keine libanesischen Staatsbürger). Aufgrund des COVID-19-Ausbruchs hat sich die Lage 2020 weiter verschlimmert.

In den letzten zehn Jahren hat die EU Libanon jedoch stark unterstützt. Zwischen 2011 und 2020 haben wir mehr als 2,4 Mrd. EUR mobilisiert, davon 340 Mio. EUR als Reaktion auf den COVID-19-Ausbruch, zu dem infolge der Explosion des Hafens von Beirut 170 Mio. EUR hinzukamen. Nach dieser Explosion haben wir gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der Weltbank einen Arbeitsrahmen — Lebanon Reform, Recovery and Reconstruction Framework (3RF) — geschaffen, der es uns ermöglicht, das libanesische Volk unmittelbar zu unterstützen.

Libanon nähert sich weiter dem wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch

Dennoch nähert sich Libanon weiter dem wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch. Trotz der anhaltenden Forderungen der EU und der internationalen Gemeinschaft befinden sich die seit mehreren Monaten eingeleiteten Verhandlungen über die Bildung einer Regierung in einer Sackgasse. Das konfessionelle System, das die Grundlage für die Machtverteilung im Libanon bildet, hat seine Grenzen erreicht, bleibt jedoch sehr schwer zu ersetzen.

 

Es wurden keine greifbaren Fortschritte erzielt, weder bei den Sofortmaßnahmen, die erforderlich sind, um die Unterstützung aus dem IWF zu erhalten, die zur Eindämmung des Zusammenbruchs erforderlich ist, noch bei den strukturierteren Reformen zur Bekämpfung der Korruption. 

 

Seit zehn Monaten wird das Land nun von einer Interimsregierung geleitet. Die Regierung befasst sich ernsthaft mit den Schwierigkeiten des Landes und schlägt Lösungen vor. Sie hat jedoch weder die Unterstützung des Parlaments noch ein Mandat zur Durchführung von Reformen. Daher wurden weder bei den Sofortmaßnahmen, die erforderlich sind, um die Unterstützung aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erhalten, die zur Eindämmung des Zusammenbruchs erforderlich ist, noch bei den Strukturreformen zur Bekämpfung der Korruption, Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, Präzisierung der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge, Festlegung von Rahmenbedingungen für die Arbeitsweise der Zentralbank oder Regulierung von Schlüsselsektoren wie dem Stromsektor, greifbare Fortschritte erzielt. Im Anschluss an seinen Austausch mit führenden Politikern des Landes hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im September dieses Jahres ein Reformprogramm mit kurzen Umsetzungsfristen vorgeschlagen. Es ist nach wie vor gültig und sollte als Fahrplan für jede neue Regierung dienen.

Die libanesische Bevölkerung leidet unter diesem Scheitern

Die libanesische Bevölkerung leidet unter diesem Scheitern. 55 % der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Nach Angaben des IWF dürfte Libanon in diesem Jahr die einzige Volkswirtschaft der Region sein, die seine Arbeitslosenquote bereits Ende 2020 auf 39 % schätzte. In den letzten Monaten hat das libanesische Pfund gegenüber dem US-Dollar um 90 % abgenommen. Viele gut ausgebildete Libanesen verlassen das Land, und die Armut nimmt zu. Vor diesem Hintergrund nehmen die sozialen Spannungen zu. Im ganzen Land kommt es regelmäßig zu Demonstrationen gegen die Abwertung des libanesischen Pfunds und die Verschlechterung der Lebensbedingungen.

 

Die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage könnte schwerwiegende Auswirkungen auf Stabilität und Sicherheit des Landes haben. 

 

Die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage könnte schwerwiegende Auswirkungen auf die Stabilität und die Sicherheit in einem Land haben, in dem zwischen 1975 und 1990 ununterbrochen Bürgerkrieg herrschte und das nach wie vor regelmäßig von Gewalt betroffen ist. Am 4. Februar wurde der herausragende Intellektuelle und Kritiker der libanesischen Hisbollah, Lokman Slim, getötet. Es wird befürchtet, dass die Zeit der politischen Morde im Libanon zurückkehren könnte. Im März dieses Jahres hatte der Oberbefehlshaber der libanesischen Armee gewarnt, dass die Armee sich nicht in eine politische Sackgasse leiten lassen dürfe. Die Gefahr interner Konflikte ist für ihn ein größeres Problem für die Sicherheit Libanons als ein Konflikt mit Israel oder Syrien.

Daher habe ich am Samstag und Sonntag Libanon besucht und mich mit Präsident Aoun, dem Parlamentspräsidenten Berri, dem amtierenden Premierminister Diab, dem designierten Premierminister Hariri, dem stellvertretenden Premierminister, Verteidigungsminister und Interimsminister für auswärtige Angelegenheiten Akar, dem Leiter der Generalsicherheit Ibrahim, dem Chefkommandeur der Armee Aoun sowie unabhängigen Persönlichkeiten und Experten getroffen.

 

Ich habe die libanesische Führung an die beträchtliche Unterstützung erinnert, die wir dem Land bereits zukommen lassen, und ihr versichert, dass wir bereit sind, diese Unterstützung zu verstärken, aber dass Libanon dafür eine Regierung braucht, die eine Vereinbarung mit dem IWF trifft und das Land reformiert. 

 

Ich habe unsere Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Angesichts der derzeitigen Krise wird es dieses Mal keine finanzielle Rettung durch die Golfstaaten oder die libanesische Diaspora geben. Ich habe die libanesische Führung an die beträchtliche Unterstützung erinnert, die wir dem Land bereits zukommen lassen, und ihr versichert, dass wir bereit sind, diese Unterstützung zu verstärken, aber dass Libanon dafür eine Regierung braucht, die eine Vereinbarung mit dem IWF trifft und das Land reformiert.

 

Es gibt keinen anderen Weg als eine Vereinbarung mit dem IWF, um den Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Wir müssen daher auf diesem Punkt bestehen, aber auch bereit sein, Libanon weiter zu unterstützen, sobald diese Vereinbarung geschlossen ist. 

 

Alle, mit denen ich gesprochen habe, befürworten eine solche Vereinbarung und eine gerichtliche Untersuchung der Funktionsweise der Zentralbank. So dringlich diese Vereinbarung mit dem IWF auch sein mag, sie bleibt schwierig abzuschließen, da die geforderten Reformen notwendigerweise die Verteilung der Macht und der wirtschaftlichen Vorteile im Libanon infrage stellen werden. Es gibt jedoch keinen anderen Weg, den Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Wir müssen daher auf diesem Punkt bestehen, aber auch bereit sein, Libanon weiter zu unterstützen, sobald eine Vereinbarung mit dem IWF geschlossen ist. 

Mögliche gezielte Sanktionen

Ich habe meine Gesprächspartner auch darauf hingewiesen, dass wir weitere Maßnahmen in Erwägung ziehen müssen, wenn die libanesische Führung ihrer Verantwortung nicht nachkommt. Einige Mitgliedstaaten haben vorgeschlagen, gegebenenfalls gezielte Sanktionen zu verhängen. Keiner der Verantwortlichen, mit denen ich mich ausgetauscht habe, sprach sich gegen diese Idee aus. Einige erklärten sogar ausdrücklich, dass sie dies befürworten, natürlich unter der Voraussetzung, dass die Sanktionen nur gegen die eigentlichen „Täter“ verhängt werden. Die Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, mit denen ich gesprochen habe, haben mir allesamt gesagt, dass der mögliche Einsatz solcher Sanktionen von entscheidender Bedeutung ist, um Druck auf die politische Führung ausüben zu können. 

Wir haben auf der Tagung des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ am 21. Juni eine Bilanz meines Besuches gezogen und werden weiter an den Kriterien arbeiten, die dazu führen könnten, dass möglicherweise gezielte Sanktionen verhängt werden. Die Androhung von Sanktionen reicht jedoch nicht aus, wenn wir den Zusammenbruch des Landes verhindern und zu einem echten Wandel in Libanon beitragen wollen.

 

Ich habe darauf bestanden, dass die für das nächste Jahr anberaumten Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu den vorgesehenen Terminen stattfinden. Sie bieten eine echte Chance für Veränderungen, aber sie müssen fair sein. 

 

Wir müssen auch die illegalen Finanzströme aus dem Land genauer überwachen und die Instrumente einsetzen, die uns für eine wirksamere Bekämpfung der Geldwäsche zur Verfügung stehen. Wir müssen auch beginnen, Libanon bei der Vorbereitung der Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr zu unterstützen. Ich habe darauf bestanden, dass sie im Jahr 2022 zu den vorgesehenen Terminen stattfinden. Sie bieten eine echte Chance für Veränderungen, aber sie müssen fair sein. Wir müssen insbesondere die Möglichkeit prüfen, EU-Beobachter zu entsenden.

Echter Wandel braucht Zeit

Echter Wandel in Libanon braucht Zeit. Unser Engagement und unsere Unterstützung sollen diesen Wandel fördern. In nächster Zukunft müssen wir den Druck aufrechterhalten, damit die libanesische Führung ihrer Verantwortung gerecht wird. Die EU stand und steht dem libanesischen Volk in diesen schwierigen Zeiten uneingeschränkt solidarisch zur Seite, aber um den Druck aufrechtzuerhalten, dürfen wir die Regierung erst dann unterstützen, wenn die Reformen eingeleitet sind. In den kommenden Monaten wird Libanon weiterhin eine der wichtigsten außenpolitischen Prioritäten der EU sein.

 

 

 

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