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Intensiver Einsatz für die Bereitstellung öffentlicher Güter und den Schutz der globalen Gemeingüter

Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten – Die Welt ist von „Krieg, Hunger und Seuchen“ betroffen, und es fehlt an multilateralen Maßnahmen dagegen. Grundsätzlich könnten die G20 eine entscheidende Rolle dabei spielen, Brücken zu bauen und die notwendigen internationalen Koalitionen zu schmieden, sie werden jedoch durch zunehmende geopolitische Spannungen behindert. Diese Woche nehme ich an dem Treffen der Außenministerinnen und -minister der G20 in Indonesien teil und will dort auf positive Ergebnisse drängen. Das Treffen bietet eine gute Gelegenheit zu analysieren, warum die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter so schwierig ist und was wir diesbezüglich unternehmen können.

„Den G20 kommt eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der dramatischen Nahrungsmittel- und Energiekrise zu. Aber auch bei der Bereitstellung von Impfstoffen, beim Klimaschutz, in Bezug auf Steuergerechtigkeit und bei der Bereitstellung anderer öffentlicher Güter, die unsere Welt dringend braucht.“

 

Ein klassisches Problem der internationalen Politik ist die Frage der Herstellung öffentlicher Güter und der Bewahrung der globalen Gemeingüter. Es ist leicht zu sagen, dass wir Frieden und Sicherheit wahren, weltweite Impfkampagnen durchführen, den Klimawandel bekämpfen, die biologische Vielfalt schützen und gegen Steuerhinterziehung vorgehen wollen, und wir können auch ganz leicht sagen, warum wir dies wollen. Da es jedoch keine Weltregierung gibt, sind diese Dinge nur schwer zu verwirklichen, denn hierfür sind enorme Kooperationsanstrengungen und enorme Solidarität erforderlich. Dies gilt gerade jetzt umso mehr, da die russische Aggression gegen die Ukraine die geopolitischen Verwerfungen vertieft.

Bei globalen Problemen profitiert jedes Land eindeutig von gemeinsamen Maßnahmen, aber es besteht die Tendenz, darauf zu warten, dass andere die Führung übernehmen und die Kosten tragen (das sogenannte Trittbrettfahrer-Dilemma). Politische Entscheidungsträger sprechen in mitreißenden Reden häufig davon, dass die internationale Gemeinschaft dieses oder jenes tun müsse. Die von ihnen ergriffenen Maßnahmen zeigen jedoch, dass nationale Erwägungen oftmals schwerer wiegen als die internationalen Erfordernisse. Dies ist bedauerlich, überrascht aber nicht: nationale Politiker sind ihrer nationalen Wählerschaft verpflichtet, und Nationalismus ist nach wie vor eine starke politische Triebkraft.

Seit Jahrzehnten diskutieren Wissenschaftler und Diplomaten darüber, wie mit diesem Dilemma umzugehen ist. Die beste Antwort, die sie finden konnten, ist der sogenannte regelbasierte Multilateralismus. Dieser Begriff könnte etwas verwirrend wirken. Im Kern handelt es sich hierbei jedoch um ein ganzes System von Regeln, Organisationen und Finanzierungsvereinbarungen zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren, um die globalen Probleme zu bewältigen und globale öffentliche Güter bereitzustellen. Die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat bilden den Mittelpunkt dieses Systems, und zahlreiche operative Organisationen und Agenturen arbeiten an ihrer Seite, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation WTO, die Weltgesundheitsorganisation WHO, der Internationale Währungsfonds IWF, die Welternährungsorganisation FAO, die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen UNFCCC usw.

Zwischen 1945 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts war eine deutliche Ausweitung des multilateralen Systems zu verzeichnen, und es wurde viel bewirkt: von einer steigenden Lebenserwartung und einer Verringerung der weltweiten Armut über steigende Lebens- und Alphabetisierungsstandards bis hin zur Beseitigung von Krankheiten wie Pocken oder von schädlichen Chemikalien wie Fluorkohlenwasserstoffen (FCKW), die ein Loch in der Ozonschicht verursacht haben, das sich nun wieder schließt.

Natürlich gab es in dieser Zeit zahlreiche weitere Probleme und Krisen von kürzerer oder längerer Dauer, unter anderem die Schulden- und Finanzkrisen oder das Versäumnis, die „dunkle Seite“ der Globalisierung zu regulieren. Nach historischen Standards hat das „System“ jedoch zu Resultaten geführt: der Hunger geht zurück, und die Zahl der Menschen, und insbesondere der Frauen, die besser ausgebildet sind und ein längeres, gesünderes und freieres Leben vor sich haben, steigt.

Unglücklicherweise hat das System in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit der auf nationaler Ebene allgemeinen Tendenz zum Populismus und dem geopolitischen Wettbewerb zwischen den wichtigsten Akteuren zu kämpfen. Derzeit ist mehr Misstrauen, mehr Nationalismus und mehr Trittbrettfahrerei in der Welt als sie verkraften kann. Wie ich in meiner jüngsten Rede vor dem VN-Sicherheitsrat festgestellt habe, besteht ein „Mangel an Multilateralismus“, und der Preis dafür sind ungelöste Probleme und Menschen, die den Ereignissen ausgeliefert sind.

Einige konkrete Beispiele veranschaulichen sowohl die aktuelle Dynamik als auch die für die EU bestehende Notwendigkeit, sich weiterhin für einen wirksamen Multilateralismus einzusetzen, und dies insbesondere dann, wenn die politischen Entwicklungen dies erschweren.

1. Impfstoffe. Vor drei Wochen wurde in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ eine wichtige Studie veröffentlicht, wonach durch die COVID-19-Impfstoffe im ersten Jahr ihrer Einführung schätzungsweise rund 15 Millionen Sterbefälle verhindert wurden. Dies ist eine überwältigende Zahl. Der Website „Our World in Data“ zufolge sind seit Mitte Juni 67 % der Weltbevölkerung mindestens einmal geimpft. Diese Zahl liegt allerdings in Ländern mit niedrigem Einkommen lediglich bei 18,6 %; und die meisten Sterbefälle konnten in den Industrieländern verhindert werden, die ihre Bevölkerung impfen konnten. Die bittere Wahrheit ist, dass die COVAX-Fazilität, das wichtigste multilaterale Instrument, das von Anfang an von der EU unterstützt wurde und das eingerichtet wurde, um die weltweite Impfkampagne auf gerechte Weise zu organisieren, im Jahr 2021 ihre Ziele (insbesondere aufgrund von Ausfuhrbeschränkungen) nicht erreichen konnte.

Als EU können wir bei Impfstoffausfuhren und -spenden und bei der Unterstützung des Multilateralismus in Bezug auf Impfstoffe eine bessere Bilanz vorweisen als China, Russland, Indien oder die Vereinigten Staaten. Wir müssen jedoch mit unseren Partnern noch mehr im Hinblick auf die Impfung der Weltbevölkerung unternehmen, wie wir es bereits zugesagt haben, auch, indem wir mehr Unterstützung für Produktionskapazitäten in Afrika, mehr Unterstützung bei der Logistik und mehr Unterstützung bei der Argumentation gegen Impfskepsis leisten, was eine bleibende Herausforderung darstellt. Außerdem müssen wir die WHO stärken, um sicherzustellen, dass die Welt insgesamt in Zukunft besser auf die Bewältigung von Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit vorbereitet ist.

 

2. Klimawandel. Auf dem Papier war das Übereinkommen von Paris ein wahrer Meilenstein: ein globales, rechtsverbindliches Übereinkommen zur Bekämpfung des Klimawandels. Die Umsetzung jedoch erweist sich als eine echte Herausforderung, und der neueste Sachstandsbericht des IPCC ist unerbittlich: bereits 3,5 Milliarden Menschen sind in hohem Maße durch die Auswirkungen des Klimawandels gefährdet, und bereits die Hälfte der Weltbevölkerung leidet unter einer gravierenden Wasserknappheit.

Entscheidend ist, dass die CO2-Emissionen stärker ansteigen als es dem Klima zuträglich ist. Nachdem im Jahr 2020 der CO2-Ausstoß aufgrund der Pandemie zurückgegangen war, stieg er bereits im Jahr 2021 wieder um 6 % und liegt jetzt über dem Niveau von 2019. Ohne eine deutliche Erhöhung der globalen Klimaschutzziele wird die Welt die im Übereinkommen von Paris festgelegten Ziele verfehlen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus – unter anderem auch für die globale Sicherheit – ergeben.

Wir müssen als EU unsere eigenen Maßnahmen verstärken, was wir mit dem Paket „Fit für 55“, das gerade verabschiedet wurde, ja auch tun. Wir müssen jedoch auch andere, die mehr tun können, dazu bringen, sich uns anzuschließen und dabei mitzuwirken, die am stärksten vom Klimawandel betroffenen und besonders fragilen Länder dabei zu unterstützen, die unvermeidlichen und wachsenden Folgen der Klimakrise zu bewältigen. Die 27. Konferenz der Vertragsparteien (COP27), die im weiteren Verlauf des Jahres in Kairo stattfinden wird, wird für den Erfolg oder das Scheitern unserer Bemühungen entscheidend sein, auch im Hinblick auf die Mobilisierung von 100 Mrd. USD für die Finanzierung des Klimaschutzes. Wir dürfen nicht zulassen, dass der von der aktuellen Energiekrise ausgehende Druck zulasten des Vorgehens gegen die ständige Bedrohung durch den Klimawandel geht.

 

3. Biologische Vielfalt. Über die Gefährdung der biologischen Vielfalt ist oftmals weniger bekannt als über die Gefährdung des Klimas, ihre Folgen jedoch sind mindestens ebenso schädlich für den Planeten und unsere Lebensgrundlage. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen ist eine Million Pflanzen- und Tierarten – von insgesamt 8 Millionen – vom Aussterben bedroht. Nach Angaben der Weltbank geht der Bestand an Waldschutzgebieten (wie beispielsweise im Amazonasgebiet) seit über zehn Jahren um 5 Mio. Hektar jährlich zurück. Die Fläche der Korallenriffe hat sich in den letzten 100 Jahren halbiert; 35 % der Fischbestände sind überfischt usw..

Die Diagnose ist klar: Auch hier ist entschlosseneres Handeln auf internationaler Ebene erforderlich. Bei den früheren Aktionsplänen der Vereinten Nationen in diesem Bereich wurden die Verpflichtungen nicht hinreichend umgesetzt. Die 15. Konferenz der Vertragsparteien des VN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt wird im Dezember in Kanada stattfinden; auf dieser Konferenz müssen entscheidende Beschlüsse zu Vorschlägen gefasst werden, die den Schutz von 30 % von Land und Meer, die Verringerung des Eintrags von Chemikalien durch die Landwirtschaft und die Wiederherstellung von mindestens einem Fünftel der geschädigten Süßwasser-, Meeres- und Landökosysteme betreffen.

 

4. Steuergerechtigkeit. Durch Steuervermeidung entgehen finanzschwachen Regierungen weltweit jedes Jahr Einnahmen in Höhe von 100-200 Milliarden US-Dollar. Im letzten Sommer wurde nach langen Verhandlungen im Rahmen der G20 eine wegweisende Vereinbarung erreicht, in der mehr als 135 Länder und Gebiete dem „Zwei-Säulen-Plan“ der OECD zugestimmt haben, „um die Vorschriften für die internationale Besteuerung zu reformieren und sicherzustellen, dass multinationale Unternehmen unabhängig davon, wo sie tätig sind, einen gerechten Anteil an Steuern zahlen.“ Dieser Durchbruch wurde allgemein begrüßt, auch von mir. Und zwar sowohl als ein Schritt hin zur Bewältigung des Problems der Steuervermeidung, um eine gerechtere Form der Globalisierung zu schaffen, als auch als ein dringend notwendiges Beispiel dafür, dass multilaterale Zusammenarbeit zu positiven Ergebnissen führen kann.

 

Es ist daher sehr frustrierend, dass wir als EU wegen des Widerstands eines Mitgliedstaats noch nicht in der Lage waren, dieses internationale Abkommen in EU-Recht umzusetzen. Wir schneiden uns ins eigene Fleisch: unsere Bürgerinnen und Bürger möchten Fortschritte bei diesem Dossier sehen, und alle Regierungen brauchen Einkommen, um die zahlreichen Krisen, mit denen wir zu kämpfen haben, zu bewältigen. Außerdem ist es auch schwierig, unseren Partnern zu erklären, dass die Union, die sich ihrer multilateralen Legitimation rühmt, es nicht schafft, ihren entsprechenden Pflichten nachzukommen. Hierdurch werden lediglich diejenigen, die eigene Vorbehalte haben, dazu ermutigt, die Ratifizierung hinauszuzögern. Hier geschieht das Gegenteil von dem, was die Welt braucht: anstelle neuer Impulse für den Multilateralismus sehen wir nur Stillstand.

 

Investitionen in multilaterale Maßnahmen

 

Jeder Fall liegt anders, die beschriebenen Probleme haben jedoch die Gemeinsamkeit, dass in Bezug auf jedes globale öffentliche Gut eine Definition der Problemstellung vorliegt und wir über einen bestehenden internationalen Rahmen für die Problemlösung verfügen. Das System tut sich jedoch schwer, im erforderlichen Umfang und mit der erforderlichen Geschwindigkeit Ergebnisse zu erzielen.

In den Fällen, in denen das Problem in der EU liegt, haben wir definitiv kein anderes gutes Argument als die Erfüllung unserer Zusagen. Die EU kann jedoch per definitionem die bestehenden Probleme nicht allein lösen: Regionale Organisationen können Beiträge zu globalen öffentlichen Gütern leisten, sie jedoch nicht bereitstellen. Hierfür müssen alle, insbesondere die Industrieländer, mehr tun.

Natürlich erschwert der geopolitische Kontext des Kriegs Russlands gegen die Ukraine diese Aufgabe. Es ist eine Verschärfung der Spannungen feststellbar, die sich in allen multilateralen Foren niederschlägt. Natürlich müssen wir unsere Prinzipien verteidigen und die zentralen Grundsätze der regelbasierten Ordnung gegenüber revisionistischen Herausforderern wie Russland und China bewahren. Gleichzeitig müssen wir auf irgendeine Weise weiterhin mit allen Mächten zusammenarbeiten, um die globalen Probleme zu lösen. Dies ist ein Balanceakt, der eine kontinuierliche Feinabstimmung und enge Koordinierung mit gleichgesinnten Partnern erfordert. Das Treffen der Außenministerinnen und -minister der G20 in Indonesien ist ein entscheidender Moment dafür, vor allem in Bezug auf die dramatische Nahrungsmittel- und Energiekrise, aber auch in Bezug auf Impfstoffe, den Klimaschutz und alle anderen öffentlichen Güter, die unsere Welt so dringend benötigt.

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"Ein Fenster zur Welt"- Blog des HR/VP Josep Borrell

Blog von Josep Borrell über seine Aktivitäten und die europäische Außenpolitik. Hier finden Sie auch Interviews, Stellungnahmen, ausgewählte Reden und Videos.