Hilfe für den Wiederaufbau von Beirut und Libanon

„Ich begrüße den Ruf der Demonstranten nach mehr Wohlstand und Demokratie für Libanon.“
Eine furchtbare Tragödie
Alle diejenigen, die gesehen haben, was in Beirut geschah, waren zutiefst erschüttert und fühlten sich den Menschen nahe, die von dieser schrecklichen Tragödie betroffen waren: 159 Menschen starben, Dutzende werden noch vermisst, Tausende sind verwundet, ganze Wohnviertel sind zerstört, und 250 000 Menschen wurden obdachlos. Und dies alles geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem das libanesische Volk bereits mit den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie und den Folgen einer schweren wirtschaftlichen Rezession zu kämpfen hatte.
Was jetzt notwendig ist — und was die libanesischen Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten — ist die Untersuchung der Gründe für diese Katastrophe und die Linderung der Folgen der entstandenen Schäden. Hierfür haben wir die Hilfe und Expertise der EU angeboten. Die europäische Hilfe wird vom Krisenreaktionszentrum (ERCC) der EU koordiniert. Mehr als 250 Rettungskräfte aus mehreren europäischen Ländern arbeiten vor Ort rund um die Uhr mit lokalen Einsatzteams zusammen. Es wurden Tonnen von Hilfsgütern zur Verfügung gestellt, und weitere Lieferungen werden folgen. Außerdem hat das ERCC das satellitengestützte Kartierungssystem des europäischen Copernicus Katastrophen- und Krisenmanagementdienstes eingesetzt.
Die gestrige virtuelle Geberkonferenz unter dem Vorsitz von Präsident Macron und VN-Generalsekretär Guterres war ein wichtiger Schritt zur Einbeziehung der gesamten internationalen Gemeinschaft bei der Verwirklichung des Ziels, Libanon zu unterstützen und die Nothilfe wirksam zu koordinieren. Zur Deckung des ersten dringenden Bedarfs wurde ein Betrag von rund 250 Mio. EUR, davon 66 Mio. EUR aus EU-Mitteln, mobilisiert.
„Die libanesischen Bürgerinnen und Bürger fordern grundlegende Veränderungen, um die strukturellen Probleme zu lösen, vor denen das Land seit Jahren steht.“
Dies ist ein starkes Signal der internationalen Solidarität, aber die libanesischen Bürgerinnen und Bürger wollen mehr als nur Solidarität. Die Menschen in den Straßen von Beirut haben ihre Empörung klar zum Ausdruck gebracht. Sie wollen eine transparente Verwaltung, um sicherzustellen, dass die gesamte Hilfe über die NRO und die Einsatzteams vor Ort direkt zu den notleidenden Menschen gelangt. Und sie fordern grundlegende Veränderungen, um die strukturellen Probleme zu lösen, mit denen das Land seit Jahren konfrontiert ist.
Die Demonstranten sind ein Warnsignal für alle.
Ich begrüße den Ruf der Demonstranten nach mehr Wohlstand und Demokratie für Libanon. Dies ist ein Warnsignal für uns alle, für die libanesischen Behörden ebenso wie für die internationale Gemeinschaft, das wir beachten müssen. Wir müssen ihm folgen, indem wir rasche, konkrete und mutige Schritte unternehmen. Ansonsten wird es unmöglich, das Vertrauen, eine Grundvoraussetzung für jeden sinnvollen Reformprozess, wiederherzustellen. Und dann könnte die Wut in Gewalt umschlagen und noch mehr Spaltung und Instabilität verursachen. Das dürfen wir nicht zulassen, weder für das Land selbst noch für die Menschen in der Region.
„Die libanesische Bevölkerung fordert, dass die Bekämpfung von Straflosigkeit und Korruption höchste Priorität erhält.“
Neben den Maßnahmen zur Deckung des unmittelbaren Bedarfs müssen wir jetzt auch zum langfristigen Wiederaufbau und zur grundlegenden Stabilisierung und Entwicklung Libanons beitragen. Die libanesischen Bürgerinnen und Bürger fordern eine grundlegende Reform ihrer Politik und ihres Finanzsystems. Sie wollen, dass die Bekämpfung von Straflosigkeit und Korruption höchste Priorität erhält. Dies ist auch die Voraussetzung für die Gewährung von Makrofinanzhilfe durch die EU und den Abschluss einer Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds.
Seit der Explosion am 4. August kann der Hafen von Beirut — das wirtschaftliche Herz des Landes — nicht mehr genutzt werden. Die einzige Alternative ist der Hafen von Tripolis, der aber weniger Kapazitäten hat, während die Nutzung der Handelsrouten über Land durch Syrien nicht möglich ist. Nach der Ermittlung des durch die Katastrophe entstandenen Bedarfs werden wir über weitere Informationen verfügen, aber schon heute ist klar, dass die EU dazu beitragen kann, Vorzugsdarlehen zu mobilisieren, und eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau des Hafens spielen könnte.
Die libanesische Wirtschaft befand sich bereits zuvor in einer schweren Krise.
Schon vor der Tragödie der vergangenen Woche befand sich die libanesische Wirtschaft in einer schweren Krise. Seit langem sind das Leistungsbilanzdefizit mit einem enormen Bedarf an Kapitalzuflüssen (rund 20 % des BIP jährlich) und die Staatsverschuldung (über 150 % des BIP) in Libanon viel zu hoch. Diese langandauernden Probleme wurden in den letzten Jahren durch die Auswirkungen des Bürgerkriegs in Syrien und insbesondere durch den starken Zustrom von Flüchtlingen, die Libanon trotz der Schwierigkeiten (großzügig) aufgenommen hat, noch verschärft.
In der Folge musste Libanon mit hohen Zinsen kämpfen, und dies bei einem BIP-Wachstum von beinahe Null seit 2011, einem dramatischen Rückgang (externer Link) der Einfuhren um beinahe die Hälfte seit 2018 sowie einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 30 % und der Armutsquote auf 50 %. Jetzt fehlt es dem Staat und den Banken an Liquidität, und sie können keine Kredite mehr aufnehmen; es gibt kaum noch einen Mittelstand oder Humanressourcen, und viele Unternehmen mussten schließen. Um diese Mängel zu beheben, ist ein grundlegendes Wirtschaftsreformprogramm erforderlich.
„Reformen zur Verbesserung der Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und Transparenz müssen bald konkrete Form annehmen.“
Zudem befindet sich das politische System als Ganzes in einer schweren Legitimationskrise. Die Menschen warten auf einen tief greifenden politischen Wandel: Reformen zur Verbesserung der Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und Transparenz müssen bald konkrete Form annehmen.
Der Wandel muss aus der libanesischen Gesellschaft selbst kommen.
In den nächsten Monaten wird die EU mit der Regierung und der Zivilgesellschaft Gespräche führen, um alle Akteure zu einer Reform der Wirtschaft und Politik des Landes zu bewegen. Der Wandel darf nicht von außen aufgezwungen werden, er muss aus der libanesischen Gesellschaft selbst kommen.
Jetzt ist es an der Zeit, dass die politischen Eliten Libanons mit den Menschen und für die Menschen ein stabileres und transparenteres politisches System und eine gerechtere Gesellschaft aufbauen. Wenn sie dazu bereit sind, können sie auf unsere volle Unterstützung zählen. Wenn diese Aufgabe auf sinnvolle, gerechte und demokratische Weise angegangen wird und alle Akteure sich ihrer Verantwortung stellen, besteht die Hoffnung, dass die Tragödie der vergangenen Woche für Libanon die Wende zum Besseren bringen könnte.
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