Generalversammlung der Vereinten Nationen: in Erwartung des „perfekten Sturms“

Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten – Tagungswoche der VN-Generalversammlung auf hoher Ebene: Führende Politikerinnen und Politiker aus der ganzen Welt kommen wieder in New York zusammen. Ganz oben auf der Tagesordnung dieser Woche steht der rechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine – doch es gibt auch viele andere Themen. Angesichts der Nahrungsmittel-, Energie-, Klima- und Schuldenkrise wird multilaterales Handeln notwendiger denn je.

 

 

 

Mein Programm begann am Sonntag mit einem Gespräch mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres. Hier hatte ich die Gelegenheit, die Unterstützung der EU für einen Multilateralismus mit den Vereinten Nationen im Mittelpunkt zu bekräftigen. Am Montag führte ich den Vorsitz bei unserem üblichen informellen Treffen der EU-Außenministerinnen und -minister im Vorfeld der VN-Generalversammlung.

 

Wir möchten auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen für internationale Unterstützung für die Ukraine eintreten, nicht nur weil sie ein Nachbarland ist, sondern weil wir mit der Verteidigung der Ukraine auch die wichtigsten Grundsätze der Vereinten Nationen verteidigen.

 

Der russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist zweifelsfrei die vorherrschende diplomatische Priorität dieser Woche. Wir möchten auf der Generalversammlung für internationale Unterstützung für die Ukraine eintreten, nicht nur weil sie ein Nachbarland ist, sondern weil wir mit der Verteidigung der Ukraine auch die wichtigsten Grundsätze der Vereinten Nationen verteidigen: die Achtung des Völkerrechts und die Souveränität und Unabhängigkeit der Staaten.

Ich werde in den kommenden Tagen auch zahlreiche bilaterale Gespräche führen; dabei soll unseren Partnern – in Asien, Afrika und Lateinamerika – klar vor Augen geführt werden, wem wir die wachsende Instabilität und die Energie- und Nahrungsmittelkrise tatsächlich zuzuschreiben haben: Wladimir Putin. Und man soll auch sehen, dass es für uns nicht darum geht, uns entweder für das Thema Ukraine oder für andere Fragen zu entscheiden. Wir engagieren uns nach wie vor auch für die Lösung der anderen Krisen auf der Welt.

Das Schwarzmeer-Getreideabkommen muss verlängert werden

Was die katastrophalen Folgen des Krieges angeht, haben wir die Gelegenheit, uns mit dem Schwarzmeer-Getreideabkommen zu befassen, das im Sommer dank der direkten Vermittlung durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen und die Türkei zustande gekommen ist. Durch das Getreideabkommen und unsere Anstrengungen im Rahmen der Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine konnte weltweit bereits ein deutlicher Rückgang der Nahrungsmittelpreise herbeigeführt werden. Die Welt braucht dringend eine Verlängerung dieses Abkommens. Gegen Russlands irreführende Darstellungen dieses Abkommens werden wir weiterhin vorgehen. Zwei Drittel der ukrainischen Ausfuhren sind bisher dahin geflossen, wo sie am dringendsten benötigt werden: in Länder in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien.

Wir versuchen auch, Fortschritte bei der Entmilitarisierung des Kernkraftwerks Saporischschja zu erzielen. Wie vom Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation, Rafael Grossi, in seinem Bericht im Anschluss an seinen Besuch bereits ausgeführt, muss Russland die Besetzung unverzüglich beenden und eine Schutzzone für nukleare Sicherheit und Gefahrenabwehr errichten.

Ein „perfekter Sturm“

Generell hat Generalsekretär António Guterres das derzeitige globale Umfeld zu Recht als „perfekten Sturm“ bezeichnet. Gegenstand unseres Gesprächs war die Frage, was wir gemeinsam dagegen tun können. Alle Kontinente waren in den vergangenen Monaten von Rekordtemperaturen, Überschwemmungen oder Dürre betroffen; die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen war gerade aus Pakistan zurückgekehrt, wo 40 % des Landes nach verheerenden Überschwemmungen lahmgelegt sind. Pakistan ist, wie die Ukraine, ein wichtiges nahrungsmittelexportierendes Land. Mehr als 300 Millionen Menschen in 82 Ländern sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Weltweit steigen die Flüchtlingszahlen. In Jemen und Somalia droht den Menschen der Hungertod.

 

Die Auswirkungen der Pandemie belasten nach wie vor viele Teile der Welt, und sogar zahlreiche der an sich stabilen Länder sind nun aufgrund des Inflationsdrucks in eine Schuldenfalle geraten.

 

Die Auswirkungen der Pandemie belasten nach wie vor viele Teile der Welt, und sogar zahlreiche der an sich stabilen Länder sind nun aufgrund der Zwänge des Inflationsdrucks in eine Schuldenfalle geraten. Unsere Amtskollegen aus dem Globalen Süden weisen uns darauf hin, dass bei der Erholung nach der Pandemie – wie bereits bei der Verteilung von Impfstoffen – Ungleichgewicht herrscht. Der globale Index der menschlichen Entwicklung ist im zweiten Jahr in Folge zurückgegangen. Die Demokratie, die Ermächtigung der Frauen, die Menschenrechte – alles ist in Gefahr. Bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) sind wir auf allen Kontinenten im Rückstand. Während Europa sich für einen harten Winter wappnet, kämpfen zahlreiche Länder ums Überleben.

Noch dazu wird es durch die internationalen Spannungen erheblich erschwert, sinnvolle multilaterale Lösungen für die aktuellen Herausforderungen zu finden. Ein selbstbewusst agierendes China und ein diskreditiertes und destruktives Russland versuchen, in einigen Entwicklungsländern Misstrauen gegenüber der internationalen regelbasierten Ordnung zu säen. Spannungen zwischen China und den USA sowie zwischen Russland und uns allen stehen einer internationalen Zusammenarbeit im Wege. Dass Russlands Veto es dem Sicherheitsrat unmöglich machen würde, in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine – die schlimmste und eklatanteste Verletzung der Charta der Vereinten Nationen seit dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait – konkrete Ergebnisse zu erzielen, war zu erwarten.

 

Die Welt braucht eine EU, die sich auf der ganzen Welt als wichtiger Entwicklungspartner und als Bollwerk für die Menschenrechte engagiert und das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen verteidigt.

 

Wo steht also die EU in alledem? Wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen immer wieder hervorhebt, braucht die Welt eine EU, die sich global engagiert, mit gutem Beispiel vorangeht und diplomatische Brücken in Bezug auf die Dreifachkrise des Planeten (Energie , Nahrungsmittel und Schuldenkrise), die Klimaschutzfinanzierung und die Digitale Agenda baut. Die Welt braucht eine selbstbewusste EU als wichtigen Entwicklungspartner, als Bollwerk für die Menschenrechte und zur Verteidigung des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen.

Von vielen unserer Partner auf der ganzen Welt, die hier in New York vertreten sind, erreicht mich genau diese Botschaft. Zwar nehmen sie den Krieg Russlands in vielerlei Hinsicht als Wende wahr, befürchten jedoch auch, dass er die EU von der umfassenderen globalen Agenda ablenken könnte. Wir werden von unseren Partnern aufgefordert, uns weiterhin auch über Europa hinaus zu engagieren und weltweit eine mäßigende Stimme der Vernunft und des gesunden Menschenverstands zu sein, die die internationale Zusammenarbeit und das multilaterale System stärkt.

Die Tagungswoche auf hoher Ebene bietet nicht nur eine Chance, Russland in die Schranken zu weisen und die Ukraine zu unterstützen, sondern auch zu zeigen, dass wir uns weiterhin in allen globalen Fragen, die für uns und unsere Partner wichtig sind, engagieren. Von den Zielen für nachhaltige Entwicklung und dem Erreichen ehrgeiziger Ergebnisse bei der Bekämpfung des Klimawandels auf der COP 27 über die Reform des Bildungsbereichs, die Umgestaltung des Finanzsystems, verbesserte Maßnahmen in der Sahelzone bis hin zur Unterstützung von Frauen in Afghanistan: Wir bleiben all diesen Themen verpflichtet.

Schaffung eines stärkeren, widerstandsfähigeren regelbasierten globalen Systems

Angesichts der zahlreichen Krisen müssen wir die politische Energie bündeln, um ein stärkeres, widerstandsfähigeres regelbasiertes globales System mit den Vereinten Nationen im Mittelpunkt zu schaffen. Wir haben großes Interesse daran, dieses System neu zu beleben. Ich sehe durchaus, dass wir möglicherweise nicht in der Lage sein werden, innerhalb einer Woche Antworten auf all diese Fragen zu finden, aber wir werden die kommenden Tage nutzen und darauf hinarbeiten. Die Europäische Union versucht jede sich bietende Gelegenheit zu ergreifen, um das multilaterale Handeln voranzubringen.

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"Ein Fenster zur Welt"- Blog des HR/VP Josep Borrell

Blog von Josep Borrell über seine Aktivitäten und die europäische Außenpolitik. Hier finden Sie auch Interviews, Stellungnahmen, ausgewählte Reden und Videos.