Energiepreise, der europäische Grüne Deal und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU

14/10/2021 – HR/VP Blog – Die EU ist mit außergewöhnlich hohen Energiepreisen konfrontiert, und die Europäische Kommission hat deshalb gestern eine Gemeinsame Mitteilung veröffentlicht. Die Krise ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen, die jedoch alle darauf hindeuten, dass wir die Umsetzung des europäischen Grünen Deals beschleunigen müssen. Kurz- und mittelfristig müssen wir auch unsere Energieversorgungssicherheit verbessern, um die Bezahlbarkeit der Energieversorgung zu gewährleisten und damit sowohl unsere Wirtschaft als auch den ökologischen Wandel zu sichern. Beide Themen sind für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU und unsere geopolitische Stellung von entscheidender Bedeutung.

„Die hohen Energiepreise verdeutlichen, dass wird die Umsetzung des europäischen Grünen Deals beschleunigen müssen. Kurzfristig müssen wir auch unsere Energieversorgungssicherheit verbessern. Die EU-Außen- und Sicherheitspolitik kann sowohl zu langfristigen als auch zu kurzfristigen Zielen beitragen.“

 

 

Der derzeitige Anstieg der Energiepreise ist auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen, vor allem jedoch auf eine hohe Erdgasnachfrage auf den Weltmärkten in Verbindung mit einer recht raschen wirtschaftlichen Erholung. Die Märkte in Europa und Asien (in erster Linie China, Japan, Thailand und Südkorea) sind miteinander verbunden, da sie dieselben Gaslieferanten haben. Mit einer Steigerung um 20 % im Jahr 2021 hat sich China zum größten Importeur von Flüssigerdgas (LNG) entwickelt. Dieser weltweite Trend hat Auswirkungen auf viele Länder, unabhängig von ihrer geografischen Lage und Marktordnung.

Wahrscheinlich nur ein vorübergehender Schock

Es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass der Schock nur vorübergehend sein wird; doch er wirft wichtige Fragen sowohl in Bezug auf innere als auch äußere Angelegenheiten der EU auf. Europa muss handeln: Die derzeitige Situation birgt die Gefahr, zu echter Energiearmut zu führen, Regierungen zu destabilisieren, den wirtschaftlichen Aufschwung zu stoppen und die politische und gesellschaftliche Unterstützung für den ökologischen Wandel in den Mitgliedstaaten zu schwächen. Zudem könnte sie uns in unseren Beziehungen zu Drittländern schwächen.

 

„Europa muss handeln: Die derzeitige Situation birgt die Gefahr, zu echter Energiearmut zu führen, Regierungen zu destabilisieren, den wirtschaftlichen Aufschwung zu stoppen und die politische und gesellschaftliche Unterstützung für den ökologischen Wandel in den Mitgliedstaaten zu schwächen.“

 

Energy prices in the EU graphic bar

Quelle: Europäische Kommission

Angesichts der steigenden Energiepreise hat die Europäische Kommission gestern eine Gemeinsame Mitteilung vorgelegt. Die EU verfügt über Instrumente, die die Mitgliedstaaten nutzen können, um die Auswirkungen der steigenden Preise kurzfristig abzumildern: z. B. durch Verringerung des Mehrwertsteuersatzes und/oder anderer Steuern auf Energie, durch gezielte Maßnahmen zur Unterstützung einkommensschwacher und gefährdeter Verbraucher oder durch andere vorübergehende Hilfen für Haushalte und kleine Unternehmen. Wie in der Gemeinsamen Mitteilung beschrieben, können all diese Maßnahmen im Einklang mit EU-Vorschriften getroffen werden. Sie mildern die Auswirkungen des Preisanstiegs durch Umverteilung der Kosten auf alle Steuerzahler, wirken den Ursachen des Problems jedoch nicht entgegen. Wir müssen daher möglicherweise auch die Vorschriften für unsere Strom- und Gasmärkte überarbeiten; dies ist jedoch nur mittelfristig möglich. Nach dem derzeitigen Rechtsrahmen der EU bestimmt der Gaspreis in der Tat den Strompreis. Wir müssen daher analysieren, ob sich das derzeitige Modell am besten dafür eignet, die Ziele des Grünen Deals und der geopolitischen Agenda der EU zu erreichen.

 

„Wir sind bei fossilen Brennstoffen stärker von Importen abhängig als andere Regionen weltweit, weil bei uns die Industrialisierung am frühesten stattgefunden hat und somit der Großteil unserer fossilen Brennstoffvorräte bereits erschöpft ist.“

 

Höhere Energiepreise werfen wichtige Fragen für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf. Wir sind bei fossilen Brennstoffen stärker von Importen abhängig als die allermeisten anderen Regionen weltweit, weil bei uns die Industrialisierung am frühesten stattgefunden hat und somit der Großteil unserer fossilen Brennstoffvorräte bereits erschöpft ist. Im Jahr 2019 betrug die Quote der Importabhängigkeit in der EU-27 nach Eurostat-Daten bei Steinkohle 70 %, bei Erdgas 90 % und bei Rohöl 97 %. Diese Importabhängigkeit nimmt von Jahr zu Jahr zu. Im selben Jahr haben wir laut Eurostat fossile Brennstoffe im Wert von 363 Mrd. EUR importiert, was 2,6 % unseres BIP oder den Kosten von mehr als 9 Millionen Arbeitsplätzen in Europa entspricht.

 

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Neben der Eindämmung des Klimawandels ist diese starke Importabhängigkeit bei fossilen Brennstoffen ein wichtiger Antriebsfaktor, um unsere Wirtschaft so schnell wie möglich zu dekarbonisieren. Die Richtung ist klar, aber wir müssen schneller handeln. Dies steht auch im Mittelpunkt des europäischen Grünen Deals und des ehrgeizigen Ziels, das wir uns im vergangenen April gesetzt haben, als wir uns rechtlich verpflichtet haben, bis 2050 klimaneutral zu werden und unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % zu senken. Im Juli hat die Europäische Kommission zudem das Legislativpaket „Fit für 55“ vorgelegt, um unsere Vorschriften und Instrumente noch besser an unsere Zusagen anzupassen.

 

„Neben der Eindämmung des Klimawandels ist diese starke Importabhängigkeit bei fossilen Brennstoffen ein wichtiger Antriebsfaktor, um unsere Wirtschaft so schnell wie möglich zu dekarbonisieren.“

 

Die Energiewende wird zweifellos mit einem Anstieg der Preise für fossile Brennstoffe einhergehen. Dieser Anstieg muss jedoch schrittweise und auf kontrollierte Weise erfolgen, damit alle Beteiligten Zeit haben, sich ausreichend anzupassen. Kurzfristige Preisschocks können diesen Prozess gefährden, da sie die Wirtschaft schädigen und den gesellschaftlichen Konsens und die Unterstützung für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels sowie für den ökologischen Wandel, mit dem eine nachhaltigere Zukunft sichergestellt werden soll, schwächen. Zur Begrenzung der mit Energiepreisschocks verbundenen Risiken müssen wir die Energieversorgungssicherheit der EU besser gewährleisten. Wir müssen daher proaktiv handeln, um unsere eigenen Energiequellen, Lieferanten und Versorgungswege zu diversifizieren, andere Länder bei der Beschleunigung ihrer Energiewende zu unterstützen und zur Stabilisierung unseres internationalen Umfelds beizutragen, insbesondere in unserer weiteren Nachbarschaft.

 

„Um die Energieversorgungssicherheit der EU zu stärken, müssen wir unsere eigenen Energiequellen, Lieferanten und Versorgungswege diversifizieren, andere Länder bei der Beschleunigung ihrer Energiewende unterstützen und zur Stabilisierung unseres internationalen Umfelds beitragen.“

 

Die Energieversorgungssicherheit ist ein wichtiger Grund, weshalb sich Europa stärker um einen Beitrag zur Stabilität im östlichen Mittelmeerraum – mit seinem großen Energiepotenzial auch im Bereich der erneuerbaren Energien – sowie in der Golfregion bemühen sollte, beispielsweise durch die Atomvereinbarung mit Iran/JCPoA oder durch Unterstützung des Irak bei der Stabilisierung und Entwicklung. Die Golfstaaten sind nach wie vor stark von Öl- und Gasexporten abhängig. Sie sind sich jedoch bewusst, dass auch sie zu erneuerbaren Energien übergehen müssen. Wir können sie bei diesem Übergang unterstützen und bei Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen zusammenarbeiten, um Probleme mit der Wasserversorgungssicherheit anzugehen. Zudem müssen diese Länder heute zuverlässige Lieferanten bleiben, wenn sie auch morgen als potenzielle zuverlässige Lieferanten, z. B. für umweltfreundlichen Wasserstoff, betrachtet werden wollen.

Energieversorgungssicherheit ist auch relevant, wenn wir dazu beitragen wollen, die Sahelzone und Länder wie Libyen oder Mosambik zu stabilisieren und Spillovereffekte im Bereich des Terrorismus auf dem afrikanischen Kontinent zu vermeiden. Dies ist auch ein Grund, warum wir weltweit für maritime Sicherheit sorgen müssen, wie wir es mit EUNAVFOR Atalanta (externer Link) bereits tun, um die von somalischem Boden ausgehende Piraterie und bewaffnete Raubüberfälle auf See vor dem Horn von Afrika zu bekämpfen. Ein weiteres Beispiel ist unser neues Konzept der koordinierten maritimen Präsenzen (Coordinated Maritime Presences, CMP) vor der westafrikanischen Küste.

 

„Energiethemen sind ein wichtiger Grund, warum die EU in ihren Beziehungen zu Russland kohärenter werden muss und ihre Mitgliedstaaten gemeinsame Ziele vertreten müssen.“

 

Nicht zuletzt ist unsere Energieimportabhängigkeit eines der wichtigsten Themen in unseren Beziehungen zu Russland. Russland kommt zwar seinen vertraglichen Verpflichtungen in Bezug auf Erdgaslieferungen nach, speist jedoch kein zusätzliches Gas in das europäische Netz ein, obwohl dies möglich wäre, und trägt somit dazu bei, die Preise nach oben zu treiben. Wie ich schon auf diesem Blog gesagt habe, „teilen wir denselben Kontinent mit Russland und begegnen ihm nach wie vor als wichtigem Akteur an verschiedenen Fronten. Uns bleibt daher keine andere Wahl, als einen grundsatzorientierten, ausgewogenen und strategischen Ansatz zu entwickeln.” Die EU ist bei fossilen Brennstoffen von Russland abhängig, aber die russische Wirtschaft und der russische Staat brauchen auch die Einnahmen, die sie mit unseren Energieimporten erzielen. Energiethemen sind ein wichtiger Grund, warum die EU in ihren Beziehungen zu Russland kohärenter werden muss und ihre Mitgliedstaaten gemeinsame Ziele vertreten müssen. Dies war in der Vergangenheit nicht immer der Fall, weshalb wir bei der Bewältigung dieser Krise Fortschritte in diesem Bereich machen müssen.

Europa muss auf der internationalen Bühne geschlossener handeln

Insgesamt ist der derzeitige Anstieg der Energiepreise ein weiteres Beispiel, warum Europa auf der internationalen Bühne und in den Beziehungen zu unseren Nachbarn geschlossener handeln muss: Alleine kann niemand von uns dieses Problem wirklich bewältigen. Wir müssen gemeinsam als „Team Europa“ handeln, wie wir dies mit unseren externen Partnern bereits in der COVID-19-Krise oder beim gemeinsamen Kauf von Impfstoffen getan haben. Ein wichtiges Mittel könnte darin bestehen, den energiepolitischen Dialog mit zentralen Lieferanten vorrangig zu behandeln. Dies werde ich unterstützen.

 

„Diese Krise erfordert eine besser koordinierte und kohärentere globale Herangehensweise im Energiebereich, um sowohl für voll funktionsfähige globale Märkte als auch für eine bezahlbare Energieversorgung während des gesamten ökologischen Wandels für alle Menschen weltweit zu sorgen.“

 

Diese Krise erfordert eine besser koordinierte, inklusivere und kohärentere globale Herangehensweise im Energiebereich, um sowohl für voll funktionsfähige globale Märkte als auch für eine bezahlbare Energieversorgung während des gesamten ökologischen Wandels für alle Menschen weltweit zu sorgen. Wir sollten diese Frage in internationalen Foren wie der Internationalen Energieagentur und der G20 zur Sprache bringen. Während der Ölpreisspitzen im Jahr 2008 forderten wir zu einer internationalen Konferenz der Lieferanten und Käufer auf. Ähnliches könnten wir auch im Gasbereich vorschlagen: Der weltweite Gasmarkt hat keine offensichtliche zentrale Anlaufstelle wie die OPEC im Ölbereich. Durch eine verstärkte internationale Koordinierung werden die Gaspreise nicht automatisch sinken, aber die offensichtliche weltweite Zusammenarbeit könnte zur Beruhigung spekulativer Märkte beitragen. Wir werden unsere mittelfristigen Vorschläge im Rahmen der neuen Internationalen Energiestrategie ausarbeiten, die die Europäische Kommission im Frühjahr 2022 vorlegen wird.

 

„Wir müssen verhindern, dass die derzeitigen Spannungen auf dem Energiemarkt die durch die Nutzung fossiler Brennstoffe verursachte Umweltschädigung weiter verschärfen, insbesondere in der Arktis und im Mittelmeerraum.“

 

Die Stabilisierung unserer Energieversorgung ist nicht unsere einzige Aufgabe. Wir müssen auch verhindern, dass die derzeitigen Spannungen auf dem Energiemarkt die durch die Nutzung fossiler Brennstoffe verursachte Umweltschädigung weiter verschärfen. Besonders wichtig ist dies in der Arktis (siehe auch die heute vorgelegte neue Arktis-Strategie der EU), aber auch im Mittelmeer, das bereits heute zu den am stärksten verschmutzten und gefährdeten Meeren der Welt gehört.

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft, eine zentrale Aufgabe für die EU und die Menschheit

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft ist eine zentrale Aufgabe für die EU und die Menschheit. Sie ist die entscheidende Herausforderung des 21. Jahrhunderts – eine Existenzfrage für den Menschen. Weltweit wird die Hauptaufgabe darin bestehen, eine ausreichende Energieversorgung für alle Menschen sicherzustellen, die derzeit sehr wenig oder gar keine Energie verbrauchen, und gleichzeitig den Klimawandel zu bekämpfen. 2019 hatten noch immer 759 Millionen Menschen keinen Strom. Dieser schwierige Prozess muss sorgfältig austariert werden, auch um kurzfristige Schocks mit eklatanten Preisspitzen zu vermeiden, die die gesamte Energiewende in der EU zunichtemachen könnten. Dies können wir mit verschiedenen Instrumenten erreichen, wie der Toolbox, die die Europäische Kommission gestern vorgelegt hat. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik kann dabei sowohl zu langfristigen als auch zu kurzfristigen Zielen beitragen.

 

 

 

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