Durch Handelspolitik wird die EU zum geopolitischen Global Player

„Die Handelspolitik der EU kann ein wichtiges außenpolitisches Instrument sein – wir sollten unsere Handelsmacht nutzen, um unsere Interessen und Werte zu fördern.“
Die Europäische Kommission hat am 17. Februar einer neuen EU-Handelsstrategie zugestimmt, die von meinem für Handel zuständigen Kollegen Exekutiv-Vizepräsident Dombrovskis in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst ausgearbeitet worden ist. Sie beruht auf dem Konzept der „offenen strategischen Autonomie“, dem zufolge wir die traditionelle Offenheit und das internationale Engagement der EU bestmöglich nutzen müssen, gleichzeitig aber auch bereit sein müssen, die Rechte der EU durchzusetzen und unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unsere Unternehmen sowie unsere Bürgerinnen und Bürger zu schützen, wenn sich andere nicht an die Regeln halten.
„In der Handelspolitik kann die EU schnell Entscheidungen treffen und hat großen Einfluss. Die Frage ist nur: Wofür wollen wir ihn nutzen?“
Die Handelspolitik der EU ist eines unserer wichtigsten Instrumente zur Unterstützung der strategischen Interessen und Werte Europas in der ganzen Welt. Warum? Weil die Größe zählt. Die Union ist in den Bereichen Handel und Investitionen nach wie vor einer der größten Akteure der Welt. Sie ist beim Handel mit Agrar- und Industrieerzeugnissen sowie Dienstleistungen weltweit führend und zieht die meisten internationalen Investitionen an und steht auch mit ihren Auslandsinvestitionen an erster Stelle. Die EU verfügt über das weltweit größte Netz von Handelsabkommen. In Handelsfragen spricht die EU mit einer Stimme, da die Handelspolitik in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Kommission fällt. Bei der Beschlussfassung ist eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten erforderlich und keine Einstimmigkeit wie in der Außen- und Sicherheitspolitik. Somit kann die EU im Bereich Handel schnell Entscheidungen treffen und hat dabei einen großen Einfluss. Die Frage ist nur: Wofür wollen wir ihn nutzen?
Seit der vorherigen Handelsstrategie der EU aus dem Jahr 2015 hat sich die Welt enorm verändert. Durch die Zunahme globaler Wertschöpfungsketten sind Einzelpersonen und Gemeinschaften auf der Strecke geblieben und immer stärkere Ungleichheiten innerhalb der Länder entstanden. Dies hat zu wachsender Kritik an der Globalisierung geführt. Außerdem konnten wir beobachten, wie die Rivalität zwischen den Großmächten und konkurrierender Nationalismus sowie eine verschärfte Krise in der Welthandelsorganisation (WHO) und ein offener „Handelskrieg“ zwischen den USA und China zu einer Erosion des multilateralen Systems geführt haben. In dieser neuen multipolaren Weltordnung wurde der Handel zunehmend zur Machtprojektion und Schaffung von Abhängigkeitsnetzen instrumentalisiert (externer Link).
In den letzten zehn Jahren war Chinas Wachstum zwar beeindruckend, doch hat sich seine Wirtschaft durch seine WTO-Mitgliedschaft nicht zu einer echten Marktwirtschaft entwickelt. China hat seinen Binnenmarkt nicht so geöffnet, wie es seinem Gewicht in der Weltwirtschaft entsprechen würde. Außerdem hat es nicht alle Verpflichtungen erfüllt, die es bei seinem Beitritt zur WTO eingegangen ist, beispielsweise im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens. Darüber hinaus sind die derzeitigen WTO‑Regeln nicht dazu geeignet, um zentrale Themen im Zusammenhang mit China – wie Staatskapitalismus, Eigentumsrechte und seine dauerhafte Einstufung als „Entwicklungsland“, die kaum mit seiner High‑Tech‑Entwicklung übereinstimmt, – zu behandeln.
Doch China ist nicht die einzige Herausforderung für die WTO. Tatsächlich steckt die WTO in einer tieferen Krise. Sie kann ihren wichtigsten Aufgaben – die Aushandlung von Abkommen über Handelsliberalisierung, die Überwachung der Handelspolitik der Mitglieder und die verbindliche Beilegung von Handelsstreitigkeiten – derzeit nicht nachkommen oder bleibt in ihrem Handeln wirkungslos. Die Organisation muss Strukturreformen durchführen und Wege finden, um die weltweite wirtschaftliche Erholung von der Pandemie zu unterstützen und gleichzeitig die Herausforderungen in den Bereichen Nachhaltigkeit und Digitalisierung anzugehen.
„Wir, die EU, sind der Überzeugung, dass die Weltwirtschaft ein stabiles und verlässliches, regelbasiertes multilaterales Handelssystem braucht.“
Wir, die EU, sind der Überzeugung, dass die Weltwirtschaft ein stabiles und verlässliches, regelbasiertes multilaterales Handelssystem braucht. Daher benötigen wir einen neuen Konsens für die Aktualisierung des WTO-Regelwerks und das wird angesichts der unterschiedlichen Standpunkte der Hauptakteure eine sehr schwierige Aufgabe sein. Allerdings geben die grundlegende Änderung in der Einstellung der neuen US‑Regierung und die kürzlich erfolgte Ernennung von Ngozi Okonjo‑Iweala zur neuen Generaldirektorin Grund zur Hoffnung.
Die EU ist und bleibt jedenfalls eine Verfechterin der Offenheit und globalen Zusammenarbeit. Sie wird weiterhin Lösungen auf der Grundlage eines modernisierten und regelbasierten globalen Handelsrahmens entwickeln. Wir werden mit gleichgesinnten Ländern zusammenarbeiten, um in der WTO eine solide umweltpolitische Agenda zu verfolgen und dafür zu sorgen, dass mit der Handelspolitik und ihrer praktischen Umsetzung menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit auf der ganzen Welt gefördert werden. Wir werden auch weiterhin auf die Schaffung eines Instruments betreffend das internationale Beschaffungswesen drängen, um auf den Märkten für das öffentliche Beschaffungswesen faire Wettbewerbsbedingungen zu erreichen.
„Die EU muss sich mit den Handelsinstrumenten ausstatten, die erforderlich sind, um in einem stark wettbewerbsorientierten internationalen Umfeld agieren zu können, und sich gleichzeitig entschieden gegen unfaire Handelspraktiken wehren.“
Die EU muss sich zwar mit den Handelsinstrumenten ausstatten, die erforderlich sind, um in einem stark wettbewerbsorientierten internationalen Umfeld agieren zu können, aber sich gleichzeitig entschieden gegen unfaire Handelspraktiken wehren. Zur Stärkung unserer Schutzmöglichkeiten wird die Kommission neue Rechtsinstrumente vorschlagen, damit Verzerrungen, die durch ausländische Subventionen auf dem EU‑Binnenmarkt entstehen, besser verfolgt und bekämpft werden können und wir vor möglichen Zwangsmaßnahmen durch Drittländer geschützt werden. Wir arbeiten außerdem an einer EU-Strategie für Ausfuhrkredite und an neuen Rechtsvorschriften zur Sorgfaltspflicht für Unternehmen, um Menschen- und Arbeitnehmerrechte weltweit zu stärken und Zwangsarbeit zu bekämpfen.
Bei Handelsabkommen reichen schöne Versprechen auf Papier nicht aus: Die Verpflichtungen müssen auch erfüllt werden. Wir müssen uns auf jeden Fall stärker auf die Durchsetzung bestehender bilateraler Handelsabkommen konzentrieren, damit europäische Unternehmen, Landwirte und Arbeitnehmer so weit wie möglich von den Rechten profitieren können, die von der EU im Rahmen der 46 bilateralen Abkommen mit 78 Partnern in der ganzen Welt ausgehandelt und vereinbart wurden.
Was unsere bilaterale Handelsagenda betrifft, so werden die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Wir wollen die transatlantischen Kernbeziehungen wiederbeleben und haben der neuen Regierung Biden eine neue „Transatlantische Agenda für den globalen Wandel“ vorgeschlagen. Mit der Teilnahme von Außenminister Antony Blinken an der Tagung des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ im Februar wurde bereits das gemeinsame Engagement für die Entwicklung einer gemeinsamen Agenda für alle strategischen Themen einschließlich Handel und Technologie bewiesen. Das Abkommen zwischen der EU und den USA über die Aussetzung aller Strafzölle auf Ausfuhren, die in der vergangenen Woche in den Streitfällen Airbus und Boeing verhängt wurden, stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.
Wir wollen unsere Handelsstreitigkeiten mit den USA rasch beilegen, um den Weg für eine strategische Zusammenarbeit bei der WTO‑Reform zu ebnen. Darüber hinaus beabsichtigen wir, mit den USA und anderen Partnern zusammenzuarbeiten, um die richtigen Regeln für den digitalen Handel festzulegen und dabei digitalen Protektionismus zu vermeiden. Wir müssen die Standards für neue Technologien festlegen und sicherstellen, dass sie unsere Werte widerspiegeln, insbesondere die hohen Datenschutzstandards der EU im Rahmen der Datenschutz-Grundverordnung. Zu diesem Zweck haben wir vorgeschlagen, einen EU‑US‑Handels- und Technologierat einzurichten; wir hoffen außerdem auf eine enge Zusammenarbeit mit den USA und anderen gleichgesinnten Partnern in den Bereichen Menschenrechte, Kinderarbeit und Zwangsarbeit.
„Der Aufbau ausgewogenerer, regelbasierter Wirtschaftsbeziehungen mit China ist eine Priorität.“
Die Handels- und Investitionsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und China sind wichtig und stellen zugleich eine Herausforderung dar. Der Aufbau ausgewogenerer, regelbasierter Wirtschaftsbeziehungen mit China ist hierbei eine Priorität und so kann der jüngste Abschluss der Verhandlungen über ein umfassendes Investitionsabkommen auf politischer Ebene als ein Schritt in diese Richtung gesehen werden, sofern wir allerdings sicherstellen, dass die von China eingegangenen Verpflichtungen vollständig umgesetzt werden.
Mit diesem Abkommen soll das Gleichgewicht wieder hergestellt und ein Aufholprozess eingeleitet werden. Da der chinesische Markt stärker abgeschottet ist als der europäische, war es Europa wichtig, einen besseren Marktzugang zu erhalten. Dies haben wir für das verarbeitende Gewerbe, die Automobilbranche, den Finanzdienstleistungssektor, das Gesundheitswesen, die Telekommunikation und den Seeverkehr erreicht. Durch das Abkommen erhält die EU dasselbe, was die USA durch das Phase-One-Abkommen mit China Anfang 2020 erreicht haben. In anderen Bereichen, etwa bei den Subventionen, haben wir mehr erzielt als die Vereinigten Staaten. Da diese Vorteile zum Großteil auf der Grundlage einer Meistbegünstigung gewährt werden, werden sie auch allen Handelspartnern Chinas offenstehen.
Durch das umfassende Investitionsabkommen wird auch die Messlatte für Chinas internationale Verpflichtungen in den Bereichen nachhaltige Entwicklung und faire Wettbewerbsbedingungen höher gelegt. Dazu gehören Verpflichtungen in Bezug auf staatseigene Unternehmen, erzwungene Technologietransfers und strengere Transparenzvorschriften für Subventionen. Das Abkommen wird es der EU ermöglichen, mehr Informationen über das Verhalten staatseigener Unternehmen und die Höhe der Subventionen in China zu erhalten. Es kann die Aktualisierung des WTO‑Regelwerks unterstützen und könnte zur Wiederbelebung der globalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit beitragen (externer Link). Wir müssen mit China zusammenarbeiten, müssen dabei aber die Augen offen halten.
Neben den Vereinigten Staaten und China liegt der allgemeine Schwerpunkt der neuen Handelsstrategie der EU auch auf der EU‑Nachbarschaft, einschließlich der Erweiterungsländer, und Afrika. Das bedeutet, dass wir unsere Handels- und Investitionsbeziehungen mit diesen Ländern ausbauen und unsere Partner in diesen Regionen besser in unsere Lieferketten integrieren müssen, wenn wir unsere „strategische Autonomie“ stärken und unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von weit entfernten Ländern verringern wollen. Und so ist dies beispielsweise Teil der neuen südlichen Partnerschaft, die wir unseren Nachbarn im Mittelmeerraum vorschlagen.
Wir werden versuchen, mit Asien und dem Pazifik, wo ein Großteil des weltweiten Wirtschaftswachstums stattfinden wird, unsere Partnerschaften zu festigen und Handel und Investitionen zu fördern. Gleichzeitig bekräftigen wir unsere Entschlossenheit, mit den Partnern in diesen Regionen Freihandelsabkommen zu schließen. Unsere neue strategische Partnerschaft mit dem ASEAN sollte es uns ermöglichen, uns dort aktiver zu engagieren.
Was nun Lateinamerika betrifft, so beabsichtigen wir, die nötigen Bedingungen zu schaffen, um die Verhandlungen mit Chile abzuschließen und die noch ausstehenden Abkommen mit Mexiko und dem Mercosur zu ratifizieren. Wir wollen die Partnerschaft mit diesen beiden Regionen auf regulatorischer Ebene stärken und dabei den Schwerpunkt auf Klima und Digitales legen.
Insgesamt setzt sich die EU beim Thema Handel uneingeschränkt dafür ein, ihre weltweit führende Rolle für die Förderung ihrer Interessen und Werte und für die Schaffung einer gerechteren und nachhaltigeren Form der Globalisierung zu nutzen.
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