Der Nil und darüber hinaus: Geopolitik des Wassers

"Die EU unterstützt die Afrikanische Union uneingeschränkt beim Abbau der Spannungen rund um die Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre. Wir müssen diesen Konflikt in eine Chance für die gesamte Region verwandeln."
Die Lage am Nil ist besorgniserregend
Heute ist die Lage am Nil besonders besorgniserregend. Das dringlichste Problem ist aktuell der Bau der Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre und die Befüllung des Stausees. Mit einer installierten Leistung von 6,45 Gigawatt wird diese Talsperre die größte in Afrika und die siebtgrößte weltweit sein. Die Herausforderung besteht darin, die wirtschaftliche Entwicklung von über 250 Millionen Menschen sicherzustellen, die im Einzugsgebiet des Blauen Nils leben. Die Arbeiten werden derzeit abgeschlossen, und in Kürze soll mit der Befüllung des Stausees begonnen werden.
Während der Befüllung wird sich die Fließgeschwindigkeit flussabwärts verringern, da die Talsperre einen Teil des Wassers zurückhält. Erst wenn der Stausee vollständig befüllt ist, kann die Wasserführung wiederhergestellt werden. In Dürreperioden müssen die Bedürfnisse der stromabwärts gelegenen Länder jedoch nach wie vor gegen die Notwendigkeit des Wasserrückhalts für den Betrieb der Talsperre abgewogen werden. Zu berücksichtigen sind dabei aber auch die möglichen Chancen, die sich aus dem Bau der Talsperre ergeben, und zwar nicht nur für Äthiopien, sondern auch für dessen Nachbarländer, etwa in Bezug auf die Regulierung des Wasserabflusses, die landwirtschaftliche Erzeugung und die reichliche Verfügbarkeit von Strom, der in der Region verkauft und übertragen werden kann.
Nach zehn Jahren ist es höchste Zeit, die Frage der Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre zu klären: Das Horn von Afrika steht bereits vor zu vielen anderen Herausforderungen.
All diese entscheidenden Fragen müssen auf dem Verhandlungswege mit den stromabwärts liegenden Ländern, Sudan und Ägypten, angegangen werden. Die Verhandlungen über diese Fragen wurden 2011 aufgenommen, sind aber praktisch zum Stillstand gekommen. Nach zehn Jahren ist es höchste Zeit, diese Angelegenheit zu klären: Das Horn von Afrika steht bereits vor zu vielen anderen Herausforderungen.
Die EU hat sich vor mehreren Wochen in die Verhandlungen eingebracht, weil die betroffenen Länder – Ägypten, Sudan und Äthiopien – allesamt von strategischer Bedeutung für uns sind. Wir stehen seitdem mit allen Parteien in häufigem Kontakt. Unseren Informationen zufolge ist eine Lösung möglich, auch wenn jahrelang gewachsenes Misstrauen nicht über Nacht überwunden werden kann. Mit technischer Vorstellungskraft, politischem Mut und Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft könnte dieser Konflikt in eine Chance für sehr viele Menschen verwandelt werden.
Die Europäische Union unterstützt die Afrikanische Union
Als aktueller Vorsitzender der Afrikanischen Union hat der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa die Initiative ergriffen, die Suche nach einer Lösung sowohl für die kurzfristige Frage der Befüllung des GERD-Stausees als auch in längerfristiger Hinsicht voranzutreiben. In wenigen Tagen wird er ein Gipfeltreffen der betroffenen Staats- und Regierungschefs ausrichten, und ich freue mich sehr, dass die Europäische Union gebeten wurde, als Beobachter an diesen Gesprächen teilzunehmen. Wir haben unsere nachdrückliche Unterstützung für das Vorgehen des Präsidenten der AU bekundet, und die politischen Führer Ägyptens, Sudans und Äthiopiens sind es ihm schuldig, in dieser Angelegenheit eine afrikanische Lösung zu finden.
Der Stausee muss und kann in einem Zeitraum befüllt werden, der für alle Parteien zufriedenstellend ist. Der Betrieb nach der Befüllung muss weiter diskutiert werden, um eine Vereinbarung über die gemeinsame Wassernutzung zu erreichen – wie dies in allen Flusseinzugsgebieten der Fall ist. Alle beteiligten Parteien sollten, wie es das Völkerrecht verlangt, im Geist der Kooperation handeln. Ich bin bereit, mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der internationalen Gemeinschaft abzustimmen, um finanzielle Mittel zu mobilisieren, wenn die Region einen vorhersehbaren und vereinbarten Weg für die Bewirtschaftung des Flusses aufzeigen kann.
Die Nil-Problematik ist bei Weitem kein Einzelfall
Leider ist das Beispiel des Nils längst kein Einzelfall. Zwar sind 71 Prozent des Planeten von Meeren und Ozeanen bedeckt, doch es handelt sich dabei um Salzwasser. Süßwasser, das einzige Wasser, das für den menschlichen Verzehr und für die Landwirtschaft geeignet ist, ist bereits ein knappes Gut. Meerwasser kann zwar auch entsalzt werden, und immer mehr Länder greifen darauf zurück, doch diese Lösung ist im Hinblick auf Investitionen und Energie nach wie vor kostspielig.
Nach Angaben der Vereinten Nationen (externer Link) haben sich die Süßwasserentnahmen aus Seen, Flüssen oder dem Grundwasser für die Landwirtschaft, die Industrie oder den privaten Verbrauch seit den 1960er-Jahren verdoppelt. Darüber hinaus sind nach Angaben des World Resources Institute (externer Link) 17 Länder, darunter Iran, Indien und Pakistan, in denen ein Viertel der Weltbevölkerung lebt, bereits von extremem „Wasserstress“ betroffen, da sie 80 % ihrer Süßwasserressourcen für den menschlichen, landwirtschaftlichen oder industriellen Verbrauch entnehmen.
Im Jahr 2019 ging Chennai, der sechsgrößten Stadt Indiens, wochenlang das Wasser aus, während die Bewohner von Kapstadt (Südafrika) 2018 das gleiche Schicksal nur knapp vermeiden konnten. Die Krise verschont auch Länder wie die Vereinigten Staaten nicht, wo einige Bundesstaaten, etwa New Mexico, ebenfalls unter extremem Wasserstress leiden. Im Jahr 2017 kam es in Rom zu Wasserrationierungen, um die Ressourcen zu erhalten. Ich selbst komme aus Spanien, einem Land, in dem Bewirtschaftung von Wasserressourcen ebenfalls schon lange problematisch ist: 2008 musste Barcelona Trinkwasser aus Frankreich einführen, um den Bedarf der Bevölkerung zu decken.
Die Wassersituation dürfte sich aufgrund des Klimawandels, der wirtschaftlichen Entwicklung und des anhaltenden Bevölkerungswachstums in Zukunft weiter verschärfen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen dürfte sich diese Situation in vielen Teilen der Welt aufgrund des Klimawandels, der wirtschaftlichen Entwicklung und des anhaltenden Bevölkerungswachstums in Zukunft weiter verschärfen. Dieses Problem führt in vielen Ländern – auch innerhalb Europas – bereits nicht nur zu einer schwierigen innenpolitischen Situation, sondern auch zu internationalen Konflikten wie dem, der derzeit die Anrainerstaaten des Nils betrifft.
Wasser ist die Ursache vieler Konflikte
So steht die Frage der Kontrolle der Wasserressourcen steht im Mittelpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts in den besetzten Gebieten. Auch die Bewirtschaftung des Wassers des Tigris und des Euphrat sorgt für Schwierigkeiten zwischen der Türkei, Syrien und Irak, insbesondere seit dem Bau eines gigantischen Staudamms durch die Türkei im Rahmen des Südostanatolien-Projekts (Güneydoğu Anadolu Projesi, GAP). In Asien ist die Bewirtschaftung des Mekong ebenfalls eine der Hauptursachen für Spannungen zwischen China und seinen südostasiatischen Nachbarn Laos und Kambodscha.
Leider gibt es allen Grund zu der Befürchtung, dass Konflikte dieser Art in Zukunft noch häufiger auftreten werden. Wie aus der Karte oben hervorgeht, sind Europa und seine Nachbarländer von dem Problem der Wasserknappheit und den potenziell damit einhergehenden geopolitischen Spannungen sehr unmittelbar betroffen.
„Wasserdiplomatie“ wird für die EU-Außenpolitik immer wichtiger werden
Die EU hat die Bewirtschaftung von Wasserressourcen in den letzten zehn Jahren bereits aktiv gefördert. In diesem Zusammenhang hat sie in 62 Ländern mehr als 2,5 Mrd. EUR ausgezahlt und mehr als 70 Millionen Menschen Zugang zu sauberem Wasser und mehr als 24 Millionen Menschen Zugang zur Sanitärversorgung verschafft. Zudem hat sie die Umsetzung des Übereinkommens zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen (Helsinki-Wasserkonvention von 1992) unterstützt.
Die „Wasserdiplomatie“ wird jedoch in der Zukunft der europäischen Außenpolitik mit Sicherheit eine noch wichtigere Rolle spielen.
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