Ausländische Interventionen und die Zukunft der europäischen Verteidigung

Blog des Hohen Vertreters/Vizepräsidenten – Dieser Sommer hat uns – angefangen vom Krieg gegen die Ukraine über die gravierende Verschlechterung der Sicherheitslage in der Sahelzone bis zum Jahrestag der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan – reichlich Anlass gegeben, die europäische Verteidigung und ihre Zukunft zu überdenken. Wir müssen bereit sein, uns schwierigen Entscheidungen zu stellen, und klügere Entscheidungen treffen. Wenn wir dabei als Europäer gemeinsam handeln, dürften wir in der Lage sein, unsere kollektive Sicherheit zu verbessern.

Pictoquote: „Die Europäische Armeen sind auch schon als ‚Bonsai-Armeen‘ bezeichnet worden: Sie sehen aus wie echte Armeen, allerdings zurückgeschrumpft auf eine Miniaturversion.“

Für jene, die an „Stabilisierungsmissionen“ im Ausland beteiligt waren, war es eine ernüchternde Zeit. Vor einem Jahr haben wir den Fall von Kabul und den dramatischen Rückzug US-amerikanischer und internationaler Streitkräfte aus Afghanistan erlebt. Zwanzig Jahre, ein klares Mandat der Vereinten Nationen, Zehntausende internationale Soldaten und mehr als eine Billion Dollar – doch Afghanistan hat nach wie vor keine beständige, legitime Regierung. Bezeichnenderweise war der letzte Präsident, Ashraf Ghani, tatsächlich auch Verfasser eines der Grundlagenwerke zum Thema „Staatsbildung“. Und dennoch...

Afghanistan mag aus den Schlagzeilen verschwunden sein, doch die Lage für die dortige Bevölkerung ist katastrophal. Die Taliban haben im vergangenen Jahr keinerlei Mäßigung erkennen lassen, im Gegenteil: Trotz früherer Versprechen sind alle Mädchen von der Bildung ausgeschlossen, in weiten Teilen des Landes herrscht Hunger (70 % der Bevölkerung), und viele Afghanen leben in Angst oder sind inzwischen im Exil. Verständlicherweise wurden die Taliban bisher von keiner Regierung, nicht einmal von Pakistan oder Katar, offiziell anerkannt. Indessen zahlt das afghanische Volk einen hohen Preis für die Isolation seines Landes: Die humanitäre Hilfe ist gemessen am Bedarf verschwindend gering.

Gleichzeitig erklärt die französische Regierung, der letzte französische Soldat habe am Jahrestag des Falls von Kabul Mali verlassen. Angesichts der Entscheidungen der malischen Militärregierung war dieser Abzug inzwischen unvermeidlich geworden.

Die Lage ist komplex, doch auch hier müssen wir uns eingestehen, dass die Entwicklungstendenzen in der Region – nach mehr als zehn Jahren des internationalen Engagements – bedrückend sind: Der Terrorismus grassiert, die staatlichen Strukturen sind schwach, und die Zivilbevölkerung fristet ihr Dasein ohne Sicherheit und Grundversorgung. All dies geschieht trotz des Einsatzes und der Ressourcen zur Unterstützung eines von der G5 der Sahelzone geführten Prozesses und des im vergangenen Jahr angekündigten zivilen „Vorstoßes“.

Die malische Regierung wendet sich inzwischen immer häufiger an die Wagner-Gruppe. Ein Schritt, der zum Scheitern verurteilt ist, wird er doch nur zur Zuspitzung der bestehenden sozialen Spannungen führen, den Staat um wertvolle Ressourcen bringen und keine dauerhafte Lösung für die Sicherheitsprobleme des Landes bringen, sondern das Risiko ungesunder Abhängigkeiten weiter erhöhen.

Von Somalia bis Irak oder Libyen – jeder Fall ist anders gelagert. Doch der überwältigende Eindruck ist, wie schwierig solche Einsätze sind, welche Ressourcen sie verschlingen und wie enttäuschend allzu oft ihre Ergebnisse ausfallen.

Sowohl die Erfahrungen Afghanistans als auch Malis lassen die inhärenten Schwierigkeiten solcher „Stabilisierungsmissionen“ erkennen. Angesichts der historischen Bilanz dieser Art der Bemühungen – von Somalia bis Irak oder Libyen – ist das nicht wirklich überraschend. Jeder Fall ist, wenn es um Mandat, Bündnisse, Kernziele, Dauer, Ressourcen usw. geht, anders gelagert, aber der überwältigende Eindruck ist, wie schwierig solche Einsätze sind, welche Ressourcen sie verschlingen und wie enttäuschend allzu oft ihre Ergebnisse ausfallen.

Außenstehende können für befristete Zeit Sicherheit bieten oder „Kapazitäten aufbauen“, aber die Politik gestalten und dafür sorgen, dass die Institutionen funktionieren, können nur die Einheimischen selbst.

Woran liegt das? Die Literatur zu den Gründen ist umfangreich. Ein erster Grund besteht darin, dass die unverzichtbare Hauptvoraussetzung – das Zustandekommen einer tragfähigen, legitimen politischen Lösung sowie Regierung – nicht mit Interventionen von außen geschaffen werden kann. Das können nur Kräfte vor Ort. Ausländer werden naturgemäß und nahezu unvermeidlich als „die Anderen“ betrachtet, als die Außenstehenden, in Abgrenzung zu denen sich Kräfte vor Ort identifizieren und gegen die sie schließlich Widerstand entwickeln. Das ging schon Napoleons Armeen in Spanien so, die „mit ihren Bayonetten“ Ideen ins Land trugen, die dann, gerade weil sie von Ausländern kamen, sofort auf Widerstand stießen. Ähnlich ist es auch der internationalen Koalition in Afghanistan ergangen – ganz unabhängig davon, wie gut die Absichten waren, und ganz ungeachtet des in New York vereinbarten offiziellen Mandats. Außenstehende können für befristete Zeit Sicherheit bieten oder „Kapazitäten aufbauen“, aber die Politik gestalten und dafür sorgen, dass die Institutionen funktionieren, können nur die Einheimischen selbst.

Das zweite Problem sind unklare Zielsetzungen und die schleichende Ausweitung eines Einsatzes. Es ist schon schwer genug, diese Art der Intervention von außen zum Erfolg zu führen, doch wenn nicht klar ist, worin ihre Ziele bestehen, ist das Scheitern vorprogrammiert. Was in Afghanistan als begrenzter Einsatz zur Beendigung der Herrschaft der Taliban, die Al-Qaida Zuflucht geboten hatten, also als Operation zur Terrorismusbekämpfung begonnen hatte, weitete sich schließlich zu einer viel breiter und ehrgeiziger ausgelegten Staatsbildungsmission aus, deren Ziel das Zustandekommen einer breit aufgestellten, rechenschaftspflichtigen afghanischen Regierung war, die einen Quantensprung bewirken und die bürgerlichen Freiheiten wahren würde. Während das erste Ziel des Einsatzes bereits 2001 erreicht war, wurde das zweite Ziel nie erreicht. Den Außenstehenden, die hochentwickelte Ausrüstung und ihre eigenen kulturellen Werte mitbrachten, gelang es nicht, eine „Abkürzung“ der Geschichte zu vollziehen und eine Regierung auf den Weg zu bringen, die halbwegs die internationalen Normen achtet, dabei aber auch den örtlichen und kulturellen Bedingungen gerecht wird.

Die sogenannte internationale Gemeinschaft stützt sich oft stark auf hauptstädtische, im Idealfall englischsprachige, westlich gebildete Eliten. Tatsächlich liegt die Macht jedoch meist bei Stammesverbänden, Bürgermeistern und Anführern von Milizen.

Als Drittes sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass wir uns eingehender mit den Interessen und Motiven der Akteure und Kräfte vor Ort befassen müssen. Die sogenannte internationale Gemeinschaft stützt sich oft stark auf hauptstädtische, im Idealfall englischsprachige, westlich gebildete Eliten. Tatsächlich liegt die Macht jedoch meist bei Stammesverbänden, Bürgermeistern und Anführern von Milizen. In fragmentierten Gesellschaften gilt die Loyalität der Menschen nicht unbedingt der Zentralregierung, mit der sie nichts verbindet. Dass Mitarbeiter der Sicherheitsdienste ihr Leben für ein Staatsbildungsvorhaben aufs Spiel setzen, von dem sie nicht überzeugt sind, ist unwahrscheinlich.

Sollten wir also einfach aufgeben? Lautet das Fazit, dass wir besser einfach zu Hause bleiben sollten? Nein. Denn – hier kommt das zentrale Dilemma der Außenpolitik –, in den Worten des ehemaligen EU-Diplomaten Robert Cooper: „Selbst wenn das Chaos dich nicht interessiert, interessiert sich das Chaos für dich.“ Selbst wenn wir nicht in der Lage sind, funktionierende politische Verhältnisse zu schaffen, wird ihr Fehlen auf uns zurückschlagen. Wir können uns zurückziehen, aber dieser Rückzug kann mehr Instabilität, mehr Terrorismus, mehr Migration usw. bedeuten. Abgesehen davon verspüren wir den zutiefst menschlichen Drang, Menschen in Not zu helfen und Solidarität zu zeigen. Deshalb wird auch Isolationismus nicht funktionieren.

Die Lehre, die wir verinnerlichen müssen, ist, dass es beim Krisenmanagement darum geht, den Raum für eine funktionierende Politik zu schaffen. „Verantwortung vor Ort“ ist ein fürchterliches Klischee, das wir aber dennoch allzu oft übersehen.

Eventuell funktionieren könnte der Ansatz, bei der Auswahl der zu ergreifenden Maßnahmen selektiver vorzugehen, und nachdem die Auswahl getroffen ist, für angemessene Ressourcen zu sorgen und für die Durchführung der Maßnahmen genügend Zeit vorzusehen. Vor allem aber müssen wir die Lehre verinnerlichen, dass es beim Krisenmanagement darum geht, den Raum für eine funktionierende Politik zu schaffen. „Verantwortung vor Ort“ ist ein fürchterliches Klischee, das wir aber dennoch allzu oft übersehen.

Die Rolle der EU-Armeen

All dies ist schon für sich genommen wichtig, sollte aber auch im Kontext der Debatte über die Zukunft der europäischen Streitkräfte betrachtet werden. Im Fokus der europäischen Streitkräfte standen in den letzten 20 Jahren genau jene „Auslandseinsätze“, wie sie in Afghanistan, Irak und der Sahelzone stattgefunden haben. Zu dieser Zeit und ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die USA, China, Russland und andere Staaten ihre Verteidigungshaushalte massiv aufstockten, kam es in ganz Europa zu einer Reihe drastischer und unkoordinierter Kürzungen in den Verteidigungshaushalten, die in den letzten Jahren nur teilweise zurückgenommen wurden (Europa +20 %, Russland +300 % und China +600 %). Die relative Kluft zwischen europäischen und anderen Ländern ist dadurch dramatisch gewachsen. Wie ich bereits wiederholt ausgeführt habe, müssen wir daran dringend etwas ändern.

Die europäischen Armeen sind „ausgehöhlt“ worden und auch schon als „Bonsai-Armeen“ bezeichnet worden: Sie sehen aus wie echte Armeen, allerdings zurückgeschrumpft auf eine Miniaturversion.“

Besonders bemerkenswert ist, wie China nicht nur im Bereich der Wirtschaft, auf den wir uns meistens konzentrieren, sondern auch militärisch zu einem wichtigen Akteur aufgestiegen ist: Die chinesische Marine besitzt mehr Überwasserschiffe als die Marine der USA. Darüber hinaus konnten wir uns in diesem Sommer vor Taiwan davon überzeugen, dass China, wenn es um die Aussendung klarer Signale geht, durchaus bereit ist, seine Streitkräfte einzusetzen.

Die europäischen Armeen sind „ausgehöhlt“ worden und auch schon als „Bonsai-Armeen“ bezeichnet worden: Sie sehen aus wie echte Armeen, allerdings zurückgeschrumpft auf eine Miniaturversion. Zur Illustration: In seiner Aussage vor dem Verteidigungsausschuss der französischen Assemblée Nationale am 13. Juli bezweifelte der französische Generalstabschef Burkhard ganz offen, dass die französische Armee infolge der Schwerpunktsetzung auf Auslandseinsätze und asymmetrische Kriegsführung in Verbindung mit Haushaltskürzungen überhaupt noch in der Lage ist, auf europäischem Boden einen Krieg hoher Intensität zu führen.

Laut Aussage des Generals sei die französische Marine seit 1945 noch nie so schwach gewesen wie jetzt: Die Zahl der Schiffe habe sich seit 1990 halbiert. Die französische Luftwaffe habe die Zahl der Flugzeuge seit 1996 um 30 % reduziert. Auch bei der Armee bestehen insbesondere bei Geschützen und Munition große Lücken (da die Bestände aufgrund der Lieferungen an die Ukraine nahezu erschöpft sind). Das sind die Zustände in einem EU-Mitgliedstaat, der seine Verteidigungsrolle sehr ernst nimmt, doch in Deutschland, Italien, Spanien usw. ist die Lage noch kritischer.

Was ist also zu tun? Auf welche Art von Konflikten bereiten wir unsere Armeen vor? Und welche Entscheidungen ergeben sich daraus für Verteidigungsdispositiv, Haushalte, Ausbildung usw.? Auf die immer bedrohlichere strategische Landschaft, zu deren Akteuren auch Gegner mit hochintensiver Kriegsführung zählen, können wir nicht länger mit „Bonsai-Armeen“ reagieren. Und gleichzeitig können wir nicht eben behaupten, mit der Bilanz unserer Auslandseinsätze zufrieden zu sein.

Das bedeutet, dass wir bereit sein müssen, uns mit den Entscheidungen und Kompromissen, mit denen wir konfrontiert sind, sehr gründlich und intensiv auseinanderzusetzen und entsprechend zu entscheiden. Im Kern geht es darum, diese Überlegungen gemeinsam anzustellen, als Europäer.

Unsere Streitkräfte müssen sowohl zur Landesverteidigung als auch zur asymmetrischen Kriegsführung in der Lage sein. Dafür müssen wir natürlich im Rahmen der NATO sorgen, der inzwischen fast alle EU-Mitgliedstaaten angehören. Wir müssen uns aber auch stärker auf uns selbst verlassen können und in der Lage sein, unsere strategische Verantwortung unter Beweis zu stellen, wenn unsere Sicherheitsinteressen an den Grenzen und darüber hinaus in Gefahr sind. Deshalb müssen die EU-Mitgliedstaaten mehr und gemeinsam in die Verteidigung investieren und in diesem Bereich viel stärker zusammenarbeiten.

Das bedeutet, dass wir bereit sein müssen, uns mit den Entscheidungen und Kompromissen, mit denen wir konfrontiert sind, sehr gründlich und intensiv auseinanderzusetzen und entsprechend zu entscheiden. Im Kern geht es darum, diese Überlegungen gemeinsam anzustellen, als Europäer. Die zahlreichen Vorschläge, die wir im Rahmen des Strategischen Kompasses angenommen haben, tragen bei richtiger Umsetzung wesentlich dazu bei, unseren kollektiven Einfluss zu verstärken.

Wenn wir die gewonnenen Erkenntnisse teilen, können wir kostspielige Fehler vermeiden. Wenn wir die Ressourcen bündeln, können wir mehr erreichen. Wenn wir uns abstimmen, können wir uns aufgabenorientiert spezialisieren.

Natürlich können wir uns auch etwas vormachen und auf „Autopilot“ bleiben, die Veränderungen in der Welt da draußen ignorieren.