Wie lässt sich der Multilateralismus in einer multipolaren Welt wiederbeleben?

20/03/2021 – Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten Josep Borrell – Schlüsselbegriffe, die in Debatten über die Außenpolitik oft vorkommen, sind Multilateralismus und Multipolarität. Dies war auch auf der Interparlamentarischen Konferenz der Fall, an der ich kürzlich teilgenommen habe. Es schien mir eine gute Idee, zu erläutern, wie ich diese Begriffe sehe und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.

„Machtpolitik und die Förderung unserer Werte stehen nicht im Widerspruch zueinander. Vielmehr ist es ein Zeichen von Stärke, Grundsätze nicht aufzugeben.“

Wir wissen alle, dass der Multilateralismus in unserem Weltbild eine wesentliche Rolle spielt, aber auch starken Gegenwind erfährt. Mit der neuen US-Regierung bietet sich jedoch eine echte Chance, den Multilateralismus wiederzubeleben, auch wenn dies keine einfache Aufgabe sein wird. Erstens, weil es überall auf der Welt unterschiedliche Ansichten dazu gibt, wie er wieder aufgebaut werden soll. Zweitens, weil sich in einer multipolaren und fragmentierten Welt die geopolitische Grundlage für den Multilateralismus ständig verändert. Drittens, weil Europa ebenso wie andere globale Akteure in der Welt entschlossener vorgehen muss, um seine Interessen in einer stärker interagierenden Welt voranzubringen.

Wenn Europa bestimmte Grundprinzipien auf der Weltbühne fördern will, kann es sich nicht nur auf ihren politischen Wert verlassen, sondern muss es auch sein politisches Gewicht in die Waagschale werfen. Da Europa beispielsweise den Grundsatz verteidigen will, dass Grenzen nicht gewaltsam verändert werden können, hat es Sanktionen gegen Russland verhängt, weil Russland in der Ukraine genau das versucht hat. Wer gegen Grundprinzipien verstößt, muss dafür einen Preis zahlen. Daher habe ich nach meinem letzten Besuch in Moskau vorgeschlagen, die Beziehungen zwischen der EU und Russland auf der Grundlage von drei Elementen anzugehen: Zurückdrängung, wenn Russland gegen das Völkerrecht verstößt, Eindämmung, wenn Russland unser demokratisches System schwächen will, und Zusammenarbeit mit dem russischen Regime, wenn dies in unserem Interesse ist.

 

„Die Welt von heute wird immer multipolarer und weniger multilateral.“

 

Die Welt von heute wird immer multipolarer und weniger multilateral. Die Herausforderung für Europa besteht darin, beide Dimensionen miteinander in Einklang zu bringen, sich an die neue Machtverteilung anzupassen und gleichzeitig darauf hinzuarbeiten, die politische Fragmentierung der Welt in konkurrierende Pole abzumildern.

In den letzten drei Jahrzehnten haben wir einen raschen Wandel bei der weltweiten Machtverteilung erlebt. Von einer bipolaren Konfiguration in den Jahren 1945-1989 sind wir von 1989 bis 2008 auf eine unipolare übergegangen, bevor wir in eine Phase eingetreten sind, die wir heute „komplexe Multipolarität“ nennen könnten. Wirtschaftlich gesehen haben wir beispielsweise drei dominante Pole: die Vereinigten Staaten, China und die Europäische Union. Politisch gesehen sieht es jedoch komplizierter aus. Erstens, weil das globale System zunehmend von einer sich abzeichnenden chinesisch-amerikanischen Bipolarität strukturiert wird. Zweitens, weil es wichtige politische und militärische Mächte gibt, die nicht unbedingt starke Wirtschaftsmächte sind (wie Russland oder auf regionaler Ebene die Türkei). Drittens, weil es Akteure wie die EU gibt, die in der Mitte stehen, da sie zwar ein starkes wirtschaftliches Gewicht haben, aber als politische Pole erst im Entstehen begriffen sind. Das Ziel des „geopolitischen Europas“ besteht gerade darin, die Kluft zwischen Wirtschaftskraft und geopolitischem Einfluss zu schließen.

 

„Die Entwicklung Europas zu einem politischen Pol steht nicht im Widerspruch zur Verteidigung des Multilateralismus, sondern stellt eine Grundvoraussetzung für dessen wirksame Verteidigung dar.“

 

Ich möchte dabei eines klarstellen. Die Entwicklung Europas zu einem politischen Pol steht nicht im Widerspruch zur Verteidigung des Multilateralismus, sondern stellt eine Grundvoraussetzung für dessen wirksame Verteidigung dar. Der Multilateralismus dient in erster Linie der Ordnung der globalen Beziehungen nach stabilen und transparenten Grundsätzen, die gleichermaßen für alle, ungeachtet ihrer Größe, gelten. Dies bedeutet, dass für kleinere Länder und für Großmächte die gleichen Regeln gelten. Wir wissen jedoch, dass auch wenn Staaten formal gleich sind, manche – wie in George Orwells „Farm der Tiere“ beschrieben – gleicher sind.

Der Multilateralismus ist kein Wundermittel. Indem er die Staaten durch gemeinsame Regeln bindet, kann er jedoch die zwischen ihnen bestehenden Machtunterschiede abmildern. Deshalb unterstützen ihn Europa und die große Mehrheit der Staaten weltweit.

Nun fallen multilaterale Regeln nicht einfach vom Himmel. Sie spiegeln eine bestimmte Sachlage und sehr oft die Präferenzen der Mächtigsten wider. Wenn wir beispielsweise den Kampf um den europäischen Grünen Deal gewinnen wollen, müssen wir ein CO2-Grenzausgleichssystem einführen, das unentbehrlich, aber auch umstritten ist. Es ist unentbehrlich, weil wir ohne ein CO2-Grenzausgleichssystem vor einer Verlagerung von CO2-Emissionen und einem Wettbewerbsnachteil für unsere Industrien stehen werden. Es ist umstritten, weil viele Länder es als protektionistischen Mechanismus betrachten, was es nicht ist. Daher muss es WTO-konform sein. Wir müssen starke Bündnisse mit gleichgesinnten Staaten schmieden und die Unwilligsten unter ihnen davon überzeugen, sich unseren Bemühungen anzuschließen.

Bei der Förderung unserer Interessen müssen wir dem Kräfteverhältnis Rechnung tragen. Unsere Union beruht auf Grundsätzen, aber Grundsätze allein reichen nicht aus, um Politik zu machen – von einer erfolgreichen Politik ganz zu schweigen. Dies ist die wichtigste Lehre, die wir aus der derzeitigen globalen Lage ziehen müssen, in der die Machtpolitik auf dem Vormarsch ist.

 

„Machtpolitik und die Förderung von Werten stehen nicht im Widerspruch zueinander. Ganz im Gegenteil. Vielmehr ist es ein Zeichen von Stärke, Grundsätze nicht aufzugeben.“

 

Der zweite Grund für die Krise des Multilateralismus ist die Tatsache, dass sich die liberalen Werte von 1945 in unserer sich wandelnden Welt in der Defensive befinden. Alternative Narrative stellen „den Westen“ in allen Bereichen – sei es Wirtschaft, Gesundheit, Geschichte, individuelle Freiheiten oder Menschenrechte – in Frage. Russland, China und andere Länder betrachten jede Diskussion über Menschenrechte in ihren Einflussbereichen als Verletzung ihrer Souveränität. Für die EU sind die Menschenrechte hingegen universelle Werte und ein Eckpfeiler unserer Außenpolitik. Wenn Russland nun versucht, die Union zu umgehen und sich direkt mit den Mitgliedstaaten auseinanderzusetzen, liegt dies auch daran, dass die EU relevant ist und Russlands Zielen im Wege steht. Auch wenn es allgemein angenommen wird: Es besteht kein Widerspruch zwischen Machtpolitik und der Förderung von Werten. Ganz im Gegenteil. Vielmehr ist es ein Zeichen von Stärke, Grundsätze nicht aufzugeben.

Die Gründung des Multilateralismus im Jahr 1945 und sein Wiederaufleben nach 1989 waren nicht ausschließlich westlich, sondern ausgesprochen liberal geprägt. In dieser multilateralen und regelbasierten Ordnung haben wir Europäerinnen und Europäer uns wohlgefühlt, weil sie im Wesentlichen unseren Vorlieben und Interessen entsprochen hat. In der Welt von morgen wird die Lage schwieriger sein, da es konkurrierende Forderungen und Vorstelllungen gibt, wie das internationale System aussehen sollte. Die liberale Stimme ist nur eine unter anderen. Die Staaten, die diese Auffassung in Frage stellen, wollen den Multilateralismus von innen heraus umgestalten und neu definieren. Sie investieren in multilaterale Institutionen, um diese liberale Vision zurückzudrängen.

Vor diesem Hintergrund muss Europa dringend das Bestehen eines europäischen Standpunkts beweisen und Bündnisse mit gleichgesinnten Staaten eingehen. Europa muss imstande sein, themenbezogene Koalitionen zu schmieden und entschlossener, reaktionsfähiger und flexibler aufzutreten. Denn auch hier wirkt sich das Kräfteverhältnis nicht immer zu unseren Gunsten aus. Europa vertritt vielfältige Standpunkte und strebt keine Vorherrschaft an. Gleichzeitig muss es sicherstellen, dass dies nicht zu ein einem generellen Relativismus führt, bei dem jeder innerhalb seiner eigenen Grenzen das tut, was er will. Deshalb ist unser Engagement in internationalen Organisationen wie dem Menschenrechtsrat sehr wichtig.

 

„Bei der Gestaltung des Multilateralismus verfolgen wir drei Ziele: wir wollen das konsolidieren, was funktioniert, das reformieren, was nicht mehr gut funktioniert, und den Anwendungsbereich des Multilateralismus auf neue Bereiche ausweiten.“

 

Es gibt noch einen dritten Grund dafür, in einer multipolaren Welt zu einem politischen Pol zu werden, und zwar die Notwendigkeit, unsere Prioritäten bei der Gestaltung des multilateralen Systems zu verteidigen. „Dabei verfolgen wir drei Ziele: wir wollen das konsolidieren, was funktioniert, das reformieren, was nicht mehr gut funktioniert, und den Anwendungsbereich des Multilateralismus auf neue Bereiche ausweiten.“ Dies ist die wichtigste Botschaft der neuen Strategie zum Multilateralismus, die kürzlich von der Kommission und mir als Hohem Vertreter gebilligt wurde. Sie enthält konkrete Ideen dazu, wie die EU das regelbasierte internationale System in Schlüsselbereichen – von Handel und Investitionen bis hin zu Gesundheit, Klimaschutz oder Vorschriften für neue Technologien – neu beleben und modernisieren will. Im Mittelpunkt der Strategie steht das Engagement für Investitionen in kreative Partnerschaften – nicht zuletzt mit regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union, dem ASEAN und anderen – , um gemeinsam die Vereinten Nationen und andere multilaterale Foren zu stärken.

Tatsächlich besteht die Herausforderung nicht unbedingt darin, die internationalen Regeln zu ändern, sondern darin, ihre Umsetzung sicherzustellen. Wir können uns beispielsweise nicht mehr damit begnügen, die WTO zu verteidigen, ohne ihre Verfahren zu modernisieren, insbesondere im Hinblick auf staatliche Subventionen. Schließlich gibt es neue Bereiche wie Digitalisierung oder künstliche Intelligenz, in denen wir dringend neue globale Standards festlegen müssen. Dafür müssen wir uns in einer Position der Stärke befinden. Darüber hinaus müssen wir einen gemeinsamen Standpunkt festlegen, Argumente entwickeln und Bündnisse aufbauen.

 

„Wir müssen nicht zwischen Multipolarität – einer gegebenen Tatsache – und dem Ziel des Multilateralismus wählen.“

 

All dies bedeutet, dass wir nicht zwischen Multipolarität – einer gegebenen Tatsache – und dem Ziel des Multilateralismus wählen müssen. Die Multipolarität zu akzeptieren heißt, sich der Realität einer vielfältigen, aber auch fragmentierten und konfliktträchtigen Welt zu stellen. Den Multilateralismus zu verteidigen heißt, nicht in Fatalismus zu verfallen, sondern unsere Stärken und unsere Partner um uns zu sammeln, um das globale Spiel fließender zu machen, wobei stets die Interessen Europas und die ihnen zugrunde liegenden Werte zu berücksichtigen sind.

 

 

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