Wenn die Mitgliedstaaten sich nicht einig sind, wie stellen wir sicher, dass Europa handlungsfähig ist?

02/10/2020 - die EU hat aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen der Mitgliedstaaten bisweilen Schwierigkeiten, außenpolitische Entscheidungen zu treffen. Doch viele wollen, dass die EU in einer Welt mit vielen Gefahren eine stärkere geopolitische Rolle spielt. Wir brauchen eine ehrliche Debatte ohne Tabus darüber, wie dies am besten erreicht werden kann, auch über unsere Art der Beschlussfassung.

„Die Gründe für die kontroverse Haltung der Mitgliedstaaten im Bereich der Außenpolitik liegen auf der Hand: sie beruht auf ihrer unterschiedlichen Geschichte, Geografie und Identität. Es kommt darauf an, wie wir damit umgehen.“

Auf der Tagung des Europäischen Rates legten die Staats- und Regierungschefs ihre strategischen Leitlinien zu vielen wichtigen außenpolitischen Fragen vor, angefangen bei unseren Beziehungen zu China bis zu dem Bergkarabach-Konflikt und der Vergiftung von Aleksei Nawalny. In Bezug auf den Konflikt im östlichen Mittelmeer werden wir den Dialog mit der Türkei über noch offene Fragen fortsetzen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben mich beauftragt, eine multilaterale Konferenz zu veranstalten, auf der Themen behandelt werden könnten, die multilaterale Lösungen erfordern und u. a. Fragen zu Seegebieten, Sicherheit, Energie, Migration und wirtschaftlicher Zusammenarbeit betreffen. Wir ziehen konstruktive Beziehungen eindeutig vor, aber die politische Linie ist klar: Sollte die Türkei erneut Maßnahmen ergreifen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, wird die EU die ihr zur Verfügung stehenden Optionen nutzen.

Mit einem wichtigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs wurden endlich Sanktionen gegen Belarus verhängt. Dafür hat es zweifellos sehr lange gebraucht: seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen sind fast zwei Monate vergangen. Viele Beobachter und Kommentatoren haben darauf hingewiesen (externer link), dass die gespaltene Haltung der Mitgliedstaaten, selbst bei Fragen, die Wesen und Grundwerte der EU betreffen, uns daran gehindert hat, als Ganzes einen gemeinsamen Standpunkt zu vertreten. Kurzum, unsere Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel.

 

Bei der Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik war die EU seit jeher mit dieser Art widersprüchlicher Interessen konfrontiert. Das gilt für den Zerfall Jugoslawiens wie den Nahost-Friedensprozess, den Krieg gegen Irak im Jahr 2003, die Unabhängigkeit des Kosovo oder das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer.

 

Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass wir solche Kontroversen erleben. Bei der Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik war die EU seit jeher mit dieser Art widersprüchlicher Interessen konfrontiert. Das gilt für den Zerfall Jugoslawiens wie den Nahost-Friedensprozess, den Krieg gegen Irak im Jahr 2003, die Unabhängigkeit des Kosovo oder das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer; es gibt viele Beispiele dafür, wie die kontroverse Haltung der Mitgliedstaaten die Beschlussfassung der EU verlangsamt, gelähmt oder inhaltlich ausgehöhlt haben.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: ihre unterschiedliche Geschichte, Geografie und Identität. Die Mitgliedstaaten betrachten die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und es ist nicht einfach, 27 unterschiedliche nationale Interessen zu einem einheitlichen, gemeinsamen europäischen Interesse zu vereinen. Als Minister für auswärtige Angelegenheiten Spaniens kenne ich das Problem von beiden Seiten. Und ich weiß nur zu gut, dass wir im Rat über eine gemeinsame Haltung der EU diskutieren, aber sobald wir nach Hause kommen, konzentriert sich der Minister dann vor allem auf die Durchführung seiner nationalen Außenpolitik mit eigenen Prioritäten und roten Linien.  

Die Frage ist, wie wir damit umgehen.“ Für mich ist klar, dass die wichtigste langfristige Antwort in der Schaffung einer gemeinsamen strategischen Kultur besteht: Je mehr sich Europäerinnen und Europäer darin einig sind, wie sie die Welt und ihre Probleme sehen, desto eher werden sie sich einig, wie diese Problem angegangen werden sollten. Das wollen wir zum Teil auch mit unserer Arbeit an einem strategischen Kompass erreichen. Aber das kostet Zeit. Und in der Zwischenzeit müssen wir in der Lage sein, in schwierigen Fragen gemeinsame Beschlüsse in Echtzeit zu fassen.

Dies führt uns zu der Frage, wie wir außenpolitische Beschlüsse fassen. Jahrzehntelang waren wir uns einig, dass Beschlüsse im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einstimmig gefasst werden müssen, wobei jedes Land ein Veto einlegen konnte. In der Außenpolitik arbeiten wir häufig mit sogenannten diskreten statt kontinuierlichen Variablen. Dies bedeutet, dass viele unserer Beschlüsse einen binären Charakter  mit zwei Szenarien haben: eine Regierung wird anerkannt oder nicht, eine Krisenbewältigungsoperation wird eingeleitet oder nicht. Das führt häufig zur Blockade oder Lähmung. Es gibt andere wichtige Politikbereiche wie Steuern oder den mehrjährigen EU-Finanzrahmen, in denen das Einstimmigkeitsprinzip die Suche nach angemessenen Lösungen ebenfalls deutlich erschwert.

Im Gegensatz dazu kann die EU in bestimmten Bereichen, wie Binnenmarkt, Klimaschutz oder Migration, Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit fassen (55 % der Mitgliedstaaten und 65 % der Bevölkerung). Dabei sind Marktregeln oder Klimaziele keineswegs Themen, die als weniger bedeutend oder weniger sensibel zu betrachten sind. Vielmehr stehen hier wichtige nationale Interessen auf dem Spiel, die häufig ebenso stark kollidieren wie in der Außenpolitik.

 

Wichtig bei Diskussionen auf EU-Ebene ist nicht, wie sie beginnen; wichtig ist, wie sie enden.

 

Bemerkenswert ist, dass die EU selbst in den Bereichen, in denen dies möglich ist, Beschlüsse nicht mit qualifizierter Mehrheit fasst. Aus welchem Grund? Weil das Ethos der EU darin besteht, für Kompromisse zu sorgen, die von allen akzeptiert werden können. Dazu müssen jedoch alle Mitgliedstaaten bereit sein, sich zu bewegen und einen Beitrag zu dieser Geschlossenheit zu leisten. Wenn jeder einfach auf seiner Position beharrt, für dies zwangläufig zu Blockaden und in diesem spezifischen Kontext ist die Möglichkeit der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit besonders wichtig: nicht um sie als Option zu nutzen, sondern als Anreiz für die Mitgliedstaaten, sich zu bewegen und nach einer gemeinsamen Basis zu suchen. Auf diese Art kann die EU außerhalb der Außenpolitik Beschlüsse zu wichtigen Themen fassen, bei denen zentrale Interessen auf dem Spiel stehen, auch wenn die Mitgliedstaaten geteilter Meinung sind. Wichtig bei Diskussionen auf EU-Ebene ist nicht, wie sie beginnen; wichtig ist, wie sie enden.

Bereits zu Beginn meiner Amtszeit habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir, um in der Außenpolitik der Lähmung und Verzögerung des politischen Handelns infolge des Einstimmigkeitsprinzips zu vermeiden, über die Möglichkeit nachdenken sollten, einige Beschlüsse zu fassen, ohne dass die Einstimmigkeit aller 27 erforderlich wäre. So habe ich im Februar, als wir bei der Einleitung der Operation Irini zur Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen blockiert wurden, auf der Tagung des Sicherheitsrats in München (externer Link) die Frage aufgeworfen, wie sinnvoll es ist, dass ein Land, das keine Marine hat und daher ohnehin nicht an der Marineoperation teilnehmen würde, die anderen 26 Länder an der Durchführung hindern kann.

Um es klar zu sagen: Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit soll nicht auf alle Bereiche ausgeweitet werden. Vielmehr könnte man sie auf Anliegen beschränken, bei denen wir in der Vergangenheit häufig – manchmal aus Gründen, aus einem völlig anderen Kontext – blockiert wurden, wie z. B. Menschenrechtserklärungen oder Sanktionen. In ihrer „Rede zur Lage der Union“ wiederholte Präsidentin von der Leyen diesen Vorschlag (und fand mit diesem Teil ihrer Rede die größte Zustimmung).

Seither wurden erneut Debatten über die Vorteile und Risiken geführt, die mit dieser Idee verbunden sind. So hat der Präsident des Europäischen Rates beispielsweise davor gewarnt, dass der Verzicht auf das Einstimmigkeitsprinzip die Legitimität und Akzeptanz, die für die Umsetzung von Beschlüssen erforderlich sind, infrage stellen könnte. Dies ist zweifellos ein wichtiger Einwand. Von anderer Seite (externer Link) wurde darauf hingewiesen, dass das nationale Vetorecht eine „Versicherungspolice oder Notbremse“ zum Schutz der nationalen Kerninteressen insbesondere kleiner Länder ist (während größere Mitgliedstaaten darauf nicht angewiesen sein dürften).

 

Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips ist kein Patenrezept. Aber wir müssen die richtigen Anreize schaffen, damit die Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Nur die Notwendigkeit der Geschlossenheit zu beschwören reicht da nicht aus.

 

Ich begrüße diese Debatte. Mir ist klar, dass der Verzicht auf das Einstimmigkeitsprinzip nicht alle Probleme löst. Aber wir brauchen eine Diskussion darüber, wie wir die richtigen Anreize schaffen, damit die Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Nur die Notwendigkeit der Geschlossenheit zu beschwören reicht da nicht aus. Welche Beschlüsse wir fassen und wie glaubwürdig sie sind, hängt maßgeblich von dem Abstimmungsverfahren ab.

Für die Zukunft scheinen mir mehrere Möglichkeiten infrage zu kommen, die bewertet und erörtert werden sollten:

Vielleicht wäre es manchmal sinnvoller, rasch eine substanzielle  Erklärung von nur 25 Mitgliedstaaten abzugeben, als mehrere Tage später eine auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzierte Erklärung der 27?

Vielleicht wäre es auch besser, nicht ausschließlich die Einführung einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, sondern auch die „konstruktive Stimmenthaltung“ in Betracht zu ziehen? Diese Möglichkeit wurde eingeführt, damit sich ein Land enthalten kann, ohne das weitere Vorgehen der Union zu blockieren. Auf diese Weise wurde beispielsweise die EULEX-Mission im Kosovo im Jahr 2006 eingeleitet.

Da wir also die Einstimmigkeit sicherlich nicht vollständig aufgeben werden, könnten wir Bereiche, Maßnahmen und Instrumente festlegen, bei denen wir versuchsweise ein anderes Abstimmungsverfahren anwenden (z. B. Sanktionen, Erklärungen, Demarchen) und welche Schutzmechanismen sollten dann dafür geschaffen werden?

Ich hoffe, dass wir schon in den kommenden Wochen und Monaten, beispielsweise im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas, über die Vor- und Nachteile dieser Optionen diskutieren können, in dem Bewusstsein, dass die EU, angesichts der Gefahren in der Welt, unbedingt in der Lage sein muss, ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten.

 

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