Die Welt nach COVID-19: Multilateralismus und strategische Autonomie Europas

15.11.2020

16/11/2020 – Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten Josep Borrell – Am vergangenen Freitag nahm ich am dritten Pariser Friedensforum teil, bei dem die Reaktion auf die Pandemie und die Grundsätze für die internationale Ordnung nach COVID-19 im Mittelpunkt standen.

„Wir müssen darauf achtgeben, unsere Werte zu verteidigen. Die EU braucht eine eigene, strategisch autonome Sicht-, Denk- und Vorgehensweise. Strategische Autonomie ist kein Luxus und erst recht keine Illusion.“ 

Die Führungsspitzen der internationalen Politik und der Zivilgesellschaft trafen sich in diesem Jahr erneut in Paris – aufgrund der COVID-19-Pandemie jedoch in digitaler Form – um die Herausforderungen in der Welt zu erörtern und über die internationale Zusammenarbeit sowie die erforderlichen gemeinsamen Maßnahmen zu sprechen (externer Link). Ich sprach im Rahmen einer Sitzung zum Thema „Der Multilateralismus nach der Krise“, an der Natalie Samarasinghe von den Vereinten Nationen, Obiageli Ezekwesili von der African Economic Development Policy Initiative und Clément Beaune, französischer Staatssekretär für europäische und auswärtige Angelegenheiten, teilnahmen. Die Kombination der Themen – die Wahlen in den USA und das Wiederaufflammen der COVID-19-Pandemie – machte unser Gespräch hochaktuell. 

„Multilateralismus ist nichts anderes als die Hausordnung der internationalen Gemeinschaft. Dadurch werden gemeinsame Normen festgelegt und internationale Beziehungen stabilisiert.“

In meinem Beitrag habe ich betont, dass Multilateralismus nichts anderes als die Hausordnung der internationalen Gemeinschaft ist. Dadurch werden gemeinsame Normen festgelegt und gelangt Stabilität in die Regulierung der internationalen Beziehungen. Doch dieses Konzept wird in Frage gestellt, nicht zuletzt, weil die Hausgemeinschaft immer größer wird. Die Bewohner haben weder die gleichen Interessen noch die gleiche Vision, geschweige denn die gleiche Vorstellung davon, wie wir unser gemeinsames Haus neu gestalten können. Dies kann als Paradox der Multipolarität ohne Multilateralismus bezeichnet werden.

Die Krise des Multilateralismus begann nicht mit Donald Trump

Die Krise des Multilateralismus begann nicht erst kürzlich mit der Wahl von Donald Trump. Das bedeutet, dass sie wohl auch nicht mit der Wahl von Joe Biden enden wird. Ich sehe in erster Linie drei Gründe für diese Krise: die Zunahme an Akteuren, die Rückkehr der nationalen Souveränität, vor allem bei Akteuren wie China, Russland oder der Türkei, und die komplexer werdenden Probleme, deren Lösungen zwangsläufig immer schwieriger werden. 

Ich sehe in erster Linie drei Gründe für diese Krise: die Zunahme an Akteuren, die Rückkehr der nationalen Souveränität und die komplexer werdenden Probleme.“

Die Wahl des neuen US-Präsidenten wird die internationalen Beziehungen sicherlich stark verändern. Dennoch wird es nicht mehr so sein wie früher. In verschiedenen Bereichen ist eine gewisse Kontinuität der Außenpolitik der USA zu erwarten, wobei der Schwerpunkt zunehmend auf dem asiatisch-pazifischen Raum und weniger auf Europa liegt. Die neue Regierung wird sich sicher auch darauf konzentrieren, die Risse in der amerikanischen Gesellschaft zu überwinden, die nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden werden.

Mehr Dialog und Zusammenarbeit

Allerdings gibt es eine Reihe von Veränderungen, die mit der neuen US-Regierung recht schnell eintreten können. Ich erwarte mit Sicherheit mehr Dialog und Zusammenarbeit und ein besseres transatlantisches Verständnis sowie beträchtliche Veränderungen, was die Wiederaufnahme wichtiger multilateraler Projekte betrifft – insbesondere das Pariser Klimaschutzübereinkommen, die Atomvereinbarung mit Iran und eine erneute Zusammenarbeit mit der WHO. Bei anderen Themen wie der WTO-Reform müssen wir abwarten, was die neue Regierung vorhat. 

„Eine neue US-Regierung kann uns unsere eigene Arbeit gewiss nicht abnehmen. Die EU muss ihre eigene Agenda festlegen und kann nicht darauf warten, dass andere dies für sie tun.“

Wie dem auch sei, eine neue US-Regierung kann uns unsere eigene Arbeit gewiss nicht abnehmen. Die EU muss ihre eigene Agenda festlegen und kann nicht darauf warten, dass andere dies für sie tun. Die Wahl von Joe Biden bedeutet nicht, dass uns unsere eigene Arbeit abgenommen wird. Wir dürfen uns nicht dem hingeben, was ich als "strategische Selbstzufriedenheit" bezeichnet habe (externer Link).

Niemand kann oder wird Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen. Wir müssen darauf achtgeben, unsere Werte zu verteidigen. Die EU braucht ihre eigene strategische Denkweise. Strategische Autonomie ist kein Luxus und erst recht keine Illusion. Je stärker die Solidarität innerhalb Europas, desto stärker die transatlantische Solidarität – auch im Bereich Sicherheit und Verteidigung.

Den Multilateralismus wiederbeleben – eine der obersten Prioritäten der EU

Die Bemühungen auf europäischer Ebene werden Hand in Hand mit der Zusammenarbeit mit unseren Partnern weltweit gehen. Einen wirksamen Multilateralismus wiederzubeleben wird eine der obersten Prioritäten der EU im Jahr 2021 sein. Dies können wir natürlich nicht allein erreichen. Die Rückkehr der USA auf die Weltbühne wird der Wirksamkeit des Multilateralismus wichtige Impulse verleihen. Wir hoffen, dass andere Länder diesem Beispiel folgen werden und selektive, eigennützige Ansätze in globalen Fragen umdenken werden.

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