Quo vadis Europa?

03/08/2021 – HR/VP Blog – In der letzten Woche leitete ich in der spanischen Stadt Santander ein Seminar zum Thema der Schaffung eines geopolitischen Europas. Gemeinsam mit politischen Entscheidungsträgern, Mitgliedern von Think Tanks und Wissenschaftlern befassten wir uns dort mit den drängendsten globalen Problemen und den damit verbundenen Herausforderungen für die Europäische Union.

 

„Wenn Europa bei der Gestaltung der Welt nach COVID-19 eine Schlüsselrolle spielen soll, müssen wir unseren internen Zusammenhalt stärken und effektiver mit allen Regionen der Welt zusammenarbeiten.“

Santander ist die Hauptstadt der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens. In dieser Stadt, im ehemaligen Königspalast La Magdalena, wurde im Jahr 1932 – zu Zeiten der zweiten spanischen Republik – eine internationale Universität gegründet, um Spanien für die Kultur und Wissenschaft der Welt zu öffnen. Nach der Wiederherstellung der Demokratie in Spanien im Jahr 1975 kehrte die Internationale Universität Menéndez Pelayo (UIMP) in den Palast zurück. Seit 2001 – damals war ich Mitglied des Europäischen Konvents – leite ich dort jedes Jahr ein einwöchiges Seminar, das sich mit den wichtigsten Themen zur Zukunft Europas befasst. Der Titel des Seminars lautet Quo Vadis Europa? und hat sich zu einer zentralen Veranstaltung während der Sommerpause entwickelt, bei der öffentlich über Europa debattiert und reflektiert wird. 

Eingehende Überlegungen mit Experten und Fragen der jungen Generationen

In diesem Jahr lag unser Schwerpunkt auf der Frage, wie ein geopolitisches Europa geschaffen werden kann. Die diesjährige Auflage des Seminars bot mir eine willkommene und nützliche Gelegenheit, etwas Abstand zu nehmen vom Druck der Alltagskrisen, um gemeinsam mit Fachleuten aus der ganzen Welt eingehende Überlegungen anzustellen und den Fragen und Sorgen der jungen Generationen aus Europa und anderen Teilen der Welt zuzuhören. In diesem Blogbeitrag möchte ich auf die wichtigsten Erkenntnisse dieser fruchtbaren und anregenden Veranstaltung eingehen.

In der Eröffnungssitzung, an der mein Freund Enrico Letta (ehemaliger italienischer Ministerpräsident und derzeit Vorsitzender der Demokratischen Partei), Nathalie Tocci (IAI) und José Ignacio Torreblanca (ECFR) teilnahmen, standen die Herausforderungen einer Welt nach COVID-19 und die Rolle Europas in dieser Welt im Mittelpunkt. Nach dieser Krise wird die Welt wahrscheinlich digitaler, asiatischer und ungleicher sein. Bestimmt wird sie auch multipolarer und konfliktreicher sein. Sie wird aber auch mehr Multilateralismus erfordern, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Klimaschutz. Wenn Europa bei der Gestaltung der Welt eine Schlüsselrolle spielen will, muss es seinen internen Zusammenhalt stärken und muss über seine unmittelbare Nachbarschaft hinaus mit allen Regionen der Welt wirkungsvoller zusammenarbeiten.

 

„Wenn Europa bei der Gestaltung der Welt nach COVID-19 eine Schlüsselrolle spielen will, muss es seinen internen Zusammenhalt stärken und wirkungsvoller mit allen Regionen der Welt zusammenarbeiten.“

 

Für Enrico Letta ist es sowohl dem Brexit als auch der im Vergleich zur Finanzkrise 2008–2011 veränderten Haltung Deutschlands gegenüber seinen Partnern zu verdanken, dass eine Einigung zum Aufbauplan „Next Generation EU“ erzielt werden konnte, der eine der bisher größten Errungenschaften der Europäischen Kommission darstellt. Damit es uns aber gelingt, den Zusammenhalt in Europa wirksam zu stärken, wird viel davon abhängen, wie gut das Programm umgesetzt wird, vor allem in Ländern wie Italien und Spanien: Wie Letta anmerkte, werden diese beiden Länder fast 40 % der für „Next Generation EU“ bereitgestellten Mittel erhalten. Die Umsetzung wird entscheidend für die Frage sein, ob gemeinsame Maßnahmen dieser Art, die Letta zufolge unverzichtbar sind, fortgesetzt werden können und in Zukunft eine wirklich transnationale Dimension erhalten.

Ferner haben wir uns über die Umsetzung von Next Generation EU und insbesondere über die Bedeutung des Instruments für Spanien ausgetauscht, wobei Vertreter aller beteiligten Institutionen anwesend waren, darunter die Europäische Kommission, das Büro des spanischen Ministerpräsidenten, das Europäische Parlament und die Region Kantabrien. Zentrale Gesprächsthemen waren die unerlässliche Strenge bei der Durchführung von Projekten, die über Next Generation EU finanziert werden, und die parallel dazu durchzuführenden Reformen. Diese Initiative ist nicht nur ein antizyklisches Instrument zur Bewältigung der Pandemie, sondern dient vor allem der Vorbereitung der Zukunft und einem besseren Wiederaufbau nach der Maxime „building back better“.

 

Next Generation EU ist nicht nur ein antizyklisches Instrument zur Bekämpfung der Pandemie, sondern dient der Vorbereitung der Zukunft und einem besseren Wiederaufbau“.

 

Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoben die Qualität des Dialogs zwischen der spanischen Regierung und der Europäischen Kommission zu diesem Thema hervor und betonten, wie sehr sich die Situation in dieser Hinsicht davon unterscheidet, was während der Krise im Euro-Währungsgebiet vor zehn Jahren geschah. Eine wichtige Frage bleibt zum jetzigen Zeitpunkt jedoch offen, nämlich wie die Haushaltsvorschriften nach der Krise angewandt und weiterentwickelt werden sollten. Fest steht, dass die Vorschriften aus Vorkrisenzeiten angesichts des dann erreichten Niveaus der öffentlichen Verschuldung de facto unanwendbar sein werden. Wir müssen eine offene Debatte über dieses Thema einleiten, die nicht einfach sein wird, aber wichtig für die Zukunft Europas ist.

Normsetzer sein ist nicht genug

In einer weiteren Sitzung ging mein Kollege, Kommissionsmitglied Thierry Breton, auf die Herausforderungen ein, die im Bereich Technologie für die strategische Autonomie der EU bestehen, und erläuterte die diesbezüglichen Maßnahmen der Europäischen Kommission. An der Diskussion zum Thema beteiligten sich Expertinnen und Experten wie Anu Bradford (Autorin des Buches „The Brussels Effect“). Sicherlich müssen wir hier auf unsere Macht als „Normsetzer“ bauen, die eine wesentliche Stärke der EU bleibt. Die Rednerinnen und Redner betonten jedoch auch, dass wir gemeinsam noch viel stärker in den Hightech-Sektor investieren müssen. Next Generation EU schafft dafür die Möglichkeiten. 

 

„Die EU ist der globale Akteur, der Menschenrechtsfragen am stärksten in seine Außenpolitik integriert, und die Sanktionen der EU gegen Einzelpersonen und Organisationen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, zeigen echte Wirkung.“

 

Anschließend sprachen wir mit Michelle Bachelet (UN-Hochkommissarin für Menschenrechte) über das Thema Menschenrechte, wobei sie die weltweit schwierige Lage in diesem Bereich schilderte. Die EU ist zweifellos der globale Akteur, der Menschenrechtsfragen am stärksten in seine Außenpolitik integriert, und die Möglichkeit der EU, Sanktionen gegen an Menschenrechtsverletzungen beteiligte Einzelpersonen und Organisationen zu verhängen, ist bedeutsam und zeigt echte Wirkung. Diese Möglichkeit wurde durch die Annahme einer neuen, allgemeinen Sanktionsregelung im Jahr 2020 weiter gestärkt. Allerdings bestehen auch weiterhin oftmals Widersprüche zwischen den Werten und den Interessen der EU. Die Diskussionsteilnehmer betonten, dass mit diesen Widersprüchen in unseren Beziehungen zu den großen Weltmächten nach wie vor schwer umzugehen ist. Im Rahmen meiner Tätigkeit kann ich das täglich beobachten! Niemand tut mehr für die Verteidigung der Menschenrechte als die EU, aber es ist offensichtlich, dass hier weiterer Handlungsbedarf besteht.

Menschenrechte und Handel

Wir haben darüber gesprochen, wie wir unsere Interessen und Werte besser in Einklang bringen können. Dies kann insbesondere Handelsabkommen betreffen, da der Einsatz zugunsten der Sozial- und Umweltrechte in der ganzen Welt auch unseren eigenen Erzeugern zugutekommt. In diesem Zusammenhang wurde hervorgehoben, wie wichtig die künftige Richtlinie über die Sorgfaltspflichten für multinationale Unternehmen ist. Die involvierten Privatakteure werden sich dadurch veranlasst sehen, Verantwortung in diesem Bereich wahrzunehmen. Wir haben auch das schwierige Thema Asyl und Migration erörtert, über das der politische Philosoph Sami Nair sprach. Dabei betonte ich, dass wir natürlich alle unsere Verpflichtungen im Asylbereich erfüllen müssen, und zwar so human wie möglich und mit verbesserter Koordinierung unserer Maßnahmen. Um ein funktionierendes Migrationssystem zu schaffen, müssen wir den Menschenhandel bekämpfen, aber auch legale Zuwanderungswege einrichten und unsere Investitionen, Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe in unseren Partnerländern, insbesondere in Afrika, ausweiten.

 

„Um ein funktionierendes Migrationssystem zu schaffen, müssen wir natürlich den Menschenhandel bekämpfen, aber wir müssen auch legale Zuwanderungswege einrichten und unsere Investitionen, Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe in unseren Partnerländern, insbesondere in Afrika, ausweiten.“

 

In einer ebenfalls sehr interessanten Sitzung befassten wir uns mit der Zukunft des Multilateralismus in einer anarchischeren Welt. Die Lage ist in dieser Hinsicht sicherlich schwierig, aber die Aussichten sind womöglich weniger düster, als sie erscheinen – wie beispielsweise die im Rahmen der OECD und der G20 erzielte Einigung über die Besteuerung multinationaler Unternehmen gezeigt hat. Das Thema Klimawandel und die COP26 in Glasgow im kommenden November werden in dieser Hinsicht entscheidend sein. Die EU wird sich natürlich auch weiterhin mit aller Kraft für die Stärkung des Multilateralismus und den Ausbau der internationalen Zusammenarbeit einsetzen.

Wir tauschten uns ferner konkret über die Beziehungen der EU zu Lateinamerika, das in der EU-Außenpolitik immer noch nicht genügend präsent ist, sowie zu den Vereinigten Staaten, Russland und China aus. Letzteres wurde in fast allen Sitzungen als zentraler Punkt genannt. Es ist praktisch unmöglich, alle Gespräche hier zusammenzufassen oder alle Diskussionsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer aufzuzählen, darunter MdEP wie Reinhard Bütikofer und Fachleute aus Wissenschaft und Praxis wie Ricardo Hausmann, Ivan Krastev, Andrey Kortunov, Alina Polyakova, Anne-Marie Slaugther und Carmen Claudin, um nur einige zu nennen.

Der geopolitische Aspekt der Pandemie

Wenig überraschend waren der geopolitische Aspekt der Pandemie, die Frage des ungleichen Zugangs zu Impfstoffen und die Wirksamkeit der Unterstützung für weniger entwickelte Länder in allen Debatten sehr präsent. Stimmen aus Südamerika und Afrika beklagten den großen Unterschied zwischen den Impfquoten in reichen und armen Ländern. Europa tut in dieser Hinsicht viel, vor allem durch die Finanzierung der COVAX-Initiative, aber unsere Maßnahmen sind häufig weniger sichtbar als die von China und Russland. Die EU hat die Hälfte ihrer Impfstoffproduktion exportiert, aber wir müssen sicher noch mehr Impfdosen an Länder mit niedrigem Einkommen spenden, wie die Kommissionspräsidentin kürzlich vorgeschlagen hat. Dabei ist aber zu bedenken, dass die gemeinsam über die Kommission erworbenen Impfstoffe nicht der Kommission gehören, sondern den Mitgliedstaaten. Bei möglichen gemeinsamen Zusagen, bestimmte Impfstoffmengen zu spenden, obliegt es den Mitgliedstaaten, über den Umfang und Zeitpunkt von Impfstoffspenden und die begünstigten Länder zu entscheiden.

Eine offene und hilfreiche Debatte

Zusammenfassend stelle ich fest, dass die offenen und ehrlichen Gespräche, die wir letzte Woche über die wichtigsten geopolitischen Herausforderungen für Europa mit einer hoch qualifizierten Gruppe von Rednerinnen und Rednern und einer sehr motivierten Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern geführt haben, einen hilfreichen und inspirierenden Beitrag zur Debatte über die Zukunft Europas geleistet haben. Ich bedanke mich bei allen, die das ermöglicht haben.

 

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