Syrien: Wir werden weiterhin unseren Beitrag leisten

02/07/2020 - In den beinahe zehn Jahren seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien habe ich die erschreckenden Entwicklungen und Gräuel, die das syrische Volk erleben musste, aufmerksam verfolgt. Da auch in meinem Heimatland einst Bürgerkrieg herrschte, weiß ich genau, wie sehr dies eine Gesellschaft teilt und zerstört. Mehr als 12 Millionen Syrerinnen und Syrer, die Hälfte der Bevölkerung vor dem Krieg, wurden in die Flucht getrieben. Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihr Leben verloren. Eine ganze Generation syrischer Kinder kennt nichts anderes als Krieg. Wir Europäerinnen und Europäer sind kollektiv daran gescheitert, diesen Massakern vor den Toren unseres Kontinents Einhalt zu gebieten. Bei unseren Bemühungen um eine stärkere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für die EU muss ich oft an Syrien denken und an das, was wir dort hätten tun können.

 

Doch nun zur Gegenwart. Für das heutige Syrien liegt eine Lösung noch in weiter Ferne, denn tatsächlich bewegt es sich vielmehr in Richtung dauerhafter Instabilität. Die Wirtschaft des Landes befindet sich in freiem Fall, was auf anhaltende Misswirtschaft des Regimes, weit verbreitete Korruption und die Krise im libanesischen Bankensystem, über das Syrien früher seine internationalen Finanzgeschäfte abwickelte, zurückzuführen ist. Die Folgen der globalen Coronavirus-Krise verschärfen die ohnehin schon schwierigen Lebensbedingungen der Syrerinnen und Syrer. Sie haben wirklich schon genug durchgestanden – sie alle verdienen etwas weit Besseres. In erster Linie die Aussicht auf eine bessere, würdevolle und friedlichere Zukunft. Als Europäerinnen und Europäer ist es unsere Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um zur Verwirklichung dieses Ziels beizutragen. 

Die Brüsseler Konferenz zur „Unterstützung der Zukunft Syriens und der Region“, die am 30. Juni stattfand‚ war die wichtigste Veranstaltung in diesem Jahr, um auf die dringendsten Bedürfnisse, die durch die Syrien-Krise entstanden sind, einzugehen. Sie bot eine einzigartige Gelegenheit, unsere politische und finanzielle Unterstützung für die syrische Zivilgesellschaft, aber auch für die Nachbarländer Syriens und ihre Bevölkerung – insbesondere Jordanien, den Libanon und die Türkei – zu bekunden. Diese Länder haben sich gegenüber den 5,6 Millionen Syrerinnen und Syrern, die außerhalb Syriens Zuflucht fanden, außerordentlich solidarisch gezeigt.

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Trotz der Coronavirus-Krise und des Risikos einer „Gebermüdigkeit“ – die für jeden langjährigen Konflikt besteht – konnten wir dank der anhaltenden Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen, die mit uns den Vorsitz der Konferenz innehatte, zusätzliche 6,9 Mrd. € beschaffen. Ich weiß, dass das nicht ausreicht. Aus der Sicht von Menschen, die zehn Jahre Krieg ertragen mussten, gibt es wahrscheinlich keinen Geldbetrag, der dies wettmachen kann. Dennoch sind wir stolz auf dieses Ergebnis und insbesondere darauf, dass fast drei Viertel der Mittel von der EU und ihren Mitgliedstaaten stammen.

 

Mein unmittelbarer Austausch mit Mitgliedern der syrischen Zivilgesellschaft war für mich einer der aufschlussreichsten Momente der Konferenz. Die syrische Zivilgesellschaft war vor zehn Jahren nahezu inexistent. Während des Konflikts ist außerordentlich schnell gewachsen: Sie stellte die Versorgung der Menschen sicher und setzte sich für die Rechte und Bedürfnisse der Syrerinnen und Syrer ein. Das Engagement der syrischen Zivilgesellschaft und der Nichtregierungsorganisationen und ihre Entschlossenheit, auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten – damit das zehn Jahre lange Leid der syrischen Bevölkerung nicht umsonst war –‚ sind ein starkes Zeichen von Würde.

Ich habe mit Frauen und Männern gesprochen, die Familienangehörige verloren haben. Andere berichteten von Angehörigen, die noch stets vermisst oder unter unbekannten Umständen inhaftiert sind. Ein Viertel der Bevölkerung hat eine vermisste Person unter ihren engen Freunden oder Verwandten und fragt sich jeden Tag, was wohl mit ihr geschehen ist. Dies ist eines der vielen Beispiele dafür, wie die syrische Gesellschaft gebrochen wurde und die Bevölkerung noch stets in Geiselhaft gehalten wird. Dennoch gab mir der Austausch mit der Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Hoffnung, oder zumindest einen Einblick in ihre beeindruckende Entschlossenheit. Die Mitglieder der Zivilgesellschaft bestimmen die Zukunft ihres Landes. Sie können ein besseres Syrien aufbauen.

Die Ziele der Brüsseler Konferenzen gingen jedoch weit über die einer bloßen Geberkonferenz hinaus. Wir haben Syrien auch politisch ins Blickfeld gerückt. Dabei geht es nicht nur um die EU: Ganz Europa, die Nachbarländer Syriens, die Golfstaaten und die gesamte internationale Gemeinschaft – von Brasilien bis Japan, von Kanada bis Australien – bekräftigten ihre uneingeschränkte Unterstützung für die Bemühungen der Vereinten Nationen‚ als Vermittler in innersyrischen Gesprächen aufzutreten und auf eine dauerhafte politische Lösung des Konflikts hinzuarbeiten.

Ich eröffnete die Konferenz mit dem Hinweis, dass sich die Lage im Land nicht verbessert hat. Genau genommen verschlechtert sie sich weiterhin – mehr als jemals zuvor während des Krieges. Ich weiß, dass das Regime und dessen Unterstützer westliche Sanktionen dafür verantwortlich machen. Wie wir schon oft klargestellt haben, sind die Missstände in Syrien in keiner Weise auf EU-Sanktionen zurückzuführen. Die Wahrheit ist, dass Syrien nach wie vor einer organisierten wirtschaftlichen Ausbeutung durch eben jene Personen ausgesetzt ist, die uns verantwortlich machen.

Unsere Sanktionen richten sich genau gegen diese Personen sowie gegen Organisationen und Einrichtungen, die unter ihrer Kontrolle stehen. Die EU-Sanktionen wurden 2011 als Folge möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden müssen, verhängt. Sie sind so konzipiert, dass sie die Bereitstellung humanitärer und medizinischer Hilfe nicht behindern. Wir haben gegen Syrien niemals ein Embargo irgendeiner Art verhängt. Im Gegenteil: Vor allem dank internationaler Hilfe kann für Menschen in Not in Syrien nach wie vor medizinische Versorgung, Nahrung und Bildung sichergestellt werden.

Ich weiß auch, dass eine vollständige Aussöhnung nicht nur möglich, sondern auch äußerst erstrebenswert ist. Wir in Europa sind bereit, mehr zu tun, um dabei zu helfen. In der Tat würden wir viel lieber Geld für den Wiederaufbau Syriens als zur Unterstützung von Menschen in äußerster Not bereitstellen. Wiederaufbau bezieht sich jedoch nicht nur auf die Infrastruktur und den Wohnraum. Es geht vor allem darum, das soziale Gefüge in Syrien und das damit einhergehende Vertrauen wiederherzustellen und Maßnahmen zu schaffen, die ein erneutes Auftreten von Gewalt verhindern. Die erforderlichen Mindestbedingungen dafür betreffen die Staatsführung, die Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und repräsentative Regierungsbehörden. Syrien erfüllt derzeit keine dieser Bedingungen. Wir sind bereit, unseren Beitrag zum Wiederaufbau und zur Aussöhnung Syriens zu leisten, sobald ein echter politischer Übergang stabil im Gange ist.

Über die Zukunft Syriens entscheiden die Syrerinnen und Syrer. Die politischen Verhandlungen über die Zukunft Syriens müssen unter syrischer Leitung und in syrischer Eigenverantwortung geführt werden. Wie die Lage in Syrien in einem Jahr aussehen wird hängt vom Engagement des Regimes ab, die Resolution 2254 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen umzusetzen. Nicht zu unseren Gunsten, nicht zum Vorteil des Regimes oder seiner Unterstützer, sondern für das Wohl aller Syrerinnen und Syrer.

Weitere Blogeinträge des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell


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