Wir müssen unsere wirtschaftliche Souveränität schützen

25/01/2021– Blog des HR/VP – Vergangene Woche haben wir in der Europäischen Kommission eine neue Strategie zur Stärkung der internationalen Rolle des Euro und zur Steigerung unserer Widerstandsfähigkeit gegen einseitige extraterritoriale Sanktionen angenommen. Die Bereiche Finanzen und Wirtschaft werden zunehmend als Instrumente im internationalen Wettbewerb eingesetzt. Wir müssen die strategische Autonomie der EU in diesen Bereichen steigern.

 

 

Am 19. Januar haben wir im Kollegium eine neue Strategie zur sogenannten „wirtschaftlichen Souveränität“ angenommen. Diese Strategie wurde von meinem Kollegen Valdis Dombrovskis, der als Vizepräsident der Europäischen Kommission für den Bereich Wirtschaft zuständig ist, in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst erarbeitet. Die Strategie ist von zentraler Bedeutung für unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im weiteren Sinne.

 

„Wir haben in den vergangenen Monaten viel über die ‚strategische Autonomie‘ der EU beraten. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln, insbesondere in Wirtschaftsfragen.“

 

In der heutigen zunehmend wettbewerbsorientierten Welt spielen nicht nur die klassischen Machtinstrumente eine Rolle, sondern auch Soft Power selbst wird immer öfter als Waffe eingesetzt: Handel, Technologie, Daten und Informationen sind heutzutage Instrumente des politischen Wettbewerbs. Wir haben in den vergangenen Monaten viel über die strategische Autonomie der EU beraten. Ich habe bereits deutlich gemacht, dass es jetzt an der Zeit ist zu handeln, insbesondere in Wirtschaftsfragen.

Um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigt die Kommission, die internationale Rolle des Euro zu stärken, die Finanzinfrastruktur der EU weiter auszubauen, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber der extraterritorialen Anwendung einseitiger ausländischer Sanktionen zu steigern und die einheitliche Durchsetzung von EU-Sanktionen zu fördern.

 

„Wir haben die Bedeutung dieser Fragen an der Vereinbarung über das iranische Nuklearprogramm gemessen: In den vergangenen Jahren waren wir nicht in der Lage, die legitimen Handelsbeziehungen zwischen europäischen Unternehmen und Iran zu schützen.“

 

Wir haben die Bedeutung dieser Frage insbesondere an dem Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan – der Vereinbarung über das iranische Nuklearprogramm – gemessen: Dies ist eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Diplomatie. Ihre Umsetzung wurde jedoch durch den Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Vereinbarung und die von der Trump-Regierung beschlossenen einseitigen Sanktionen in Frage gestellt. In den vergangenen Jahren waren wir nicht in der Lage, die legitimen Handelsbeziehungen zwischen europäischen Unternehmen und Iran zu schützen.

Stärkung der internationalen Rolle des Euro

Im Hinblick auf die Steigerung der strategischen Autonomie der EU ist eine übermäßige Abhängigkeit vom Dollar eine unserer Schwächen. Eine solche Abhängigkeit verursacht wirtschaftliche Risiken und zusätzliche Kosten für die europäischen Akteure im Zusammenhang mit dem Euro-Dollar-Wechselkurs, Schwierigkeiten für private oder öffentliche Akteure bei der Mittelbeschaffung auf den europäischen Finanzmärkten aufgrund eines Mangels an interessierten Investoren sowie erhebliche politische Risiken bezüglich etwaiger einseitiger Entscheidungen ausländischer Akteure.

Daher sollte die EU sich um eine breitere Verwendung des Euro in internationalen Transaktionen bemühen. Derzeit ist der Euro die weltweit am zweithäufigsten verwendete Währung. Wie die nachstehende Grafik zeigt, hat der Euro in den Anfangsjahren als internationale (d. h. von Nicht-EU-Ansässigen verwendete) Währung rasch an Boden gewonnen. Seit der Rezession von 2008/09 hat sich dieser Trend jedoch umgekehrt, und der Euro hat als Weltwährung an Bedeutung verloren.

 

„Obwohl die USA das Epizentrum der globalen Finanzkrise von 2008/09 waren, haben US-amerikanische Staatsanleihen ihre Vorherrschaft als ‚sichere Anlagen‘ behalten.“

 

Obwohl die USA das Epizentrum der globalen Finanzkrise von 2008/09 waren, haben US-amerikanische Staatsanleihen ihre Vorherrschaft als „sichere Anlagen“ behalten, d. h. sie gelten weiterhin als Finanzinstrumente, die bei einem Konjunkturrückgang ihren Wert behalten dürften. Nach 2010 hat die Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet strukturelle Schwächen aufgezeigt und die internationale Verwendung des Euro beeinträchtigt. Nach dieser Krise wurde viel getan, um die zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Wir müssen jedoch weitere Verbesserungen vornehmen, insbesondere durch die Vollendung der Bankenunion und durch Fortschritte bei der Kapitalmarktunion.

 

Infographic

 

Im vergangenen Jahr hat die COVID‑19-Pandemie erneut einige Schwachstellen der Europäischen Union deutlich gemacht, aber auch ihre Stärken aufgezeigt. Durch die rasche und mutige Reaktion der EZB zur Lockerung der Geldpolitik und durch die haushaltspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten, sowie durch den neuen Aufbaufonds „NextGenerationEU“ wurde das Vertrauen in die EU und den Euro gestärkt. Mit diesen Reaktionen wurde ein klares Signal an die Märkte und die potenziellen internationalen Nutzer unserer Währung ausgesandt: Die Führungsspitzen der EU verfügen nun über wirkungsvolle Instrumente zum Schutz der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität, und sie sind bereit, diese einzusetzen.

 

Durch die rasche und mutige Reaktion der EZB und der Mitgliedstaaten auf die COVID‑19-Krise sowie durch den Aufbaufonds „NextGenerationEU“ wurde das Vertrauen in den Euro gestärkt.“

 

Daneben birgt der Euro-Anleihemarkt auch ein großes Potenzial. Der Erfolg der Finanzierung des SURE-Programms hat die hohe Kreditqualität der Union und die massive Nachfrage internationaler Investoren nach auf Euro lautenden sicheren Vermögenswerten deutlich gemacht. Die EU-Anleihen im Rahmen des Aufbaufonds „NextGenerationEU“ werden den Kapitalmärkten der EU erheblich mehr Tiefe und Liquidität verleihen und den Euro für Investoren noch attraktiver machen.

Außerdem eröffnet der grüne Wandel in dieser Hinsicht große Chancen. Die EU hat insbesondere über die Europäische Investitionsbank (externer Link) eine Vorreiterrolle auf dem Markt für grüne Anleihen eingenommen; fast die Hälfte der weltweiten Emissionen grüner Anleihen lautete 2019 auf Euro. Dieser Prozentsatz dürfte auch durch den Aufbaufonds „NextGenerationEU“ gesteigert werden: Mindestens 30 % der Investitionen sollten durch grüne Anleihen finanziert werden. Die EU arbeitet ferner an einem EU-Standard für grüne Anleihen, um diesen Markt weiter zu festigen.

 

„Der grüne Wandel eröffnet große Chancen für die internationale Verwendung des Euro: Im Jahr 2019 lautete fast die Hälfte der weltweiten Emissionen grüner Anleihen auf Euro.“

 

Eine weitere Möglichkeit, die globale Rolle des Euro zu stärken, besteht darin, seine Verwendung auf bestimmten Märkten zu fördern. Bedeutende Fortschritte wurden beispielsweise auf dem Gasmarkt erzielt: „Bei Erdgasverträgen ist der auf Euro lautende Anteil zwischen 2010 und 2018 von 38 % auf 64 % gestiegen“, so meine Kollegin Kadri Simson, EU-Kommissarin für Energie. Im Jahr 2022 wird die Kommission die Referenzwerte-Verordnung überarbeiten, um die Erstellung von auf Euro lautenden Indizes für Schlüsselsektoren der Wirtschaft, einschließlich aufstrebender Märkte wie Wasserstoff, zu erleichtern. Damit soll die Verwendung des Euro an den Finanzmärkten angekurbelt werden.

Die Kommission beabsichtigt, Sensibilisierungsmaßnahmen mit öffentlichen und privaten Marktteilnehmern – insbesondere außerhalb der EU – zu organisieren, um Investitionen in auf Euro lautende Anleihen und die Verwendung des Euro im Allgemeinen zu fördern. Dabei werden der Europäische Auswärtige Dienst und die EU-Delegationen eine wichtige Rolle spielen.

Schutz der Finanzinfrastruktur der EU vor Eingriffen aus dem Ausland

Um ihre wirtschaftliche Souveränität zu steigern, muss die EU auch die in Europa angesiedelten Finanzinfrastrukturen vor ausländischen Eingriffen schützen, wie das SWIFT-Zahlungsnetz (mit Sitz in Belgien), das Anweisungen für Geldtransfers übermittelt, oder die Clearingstellen Euroclear (in Belgien) und Clearstream (in Luxemburg), die das Gegenparteirisiko zwischen Wertpapierverkäufern und ‑käufern übernehmen, um sicherzustellen, dass die Transaktionen abgewickelt werden können. Die Sanktionen, die von der Trump-Regierung nach ihrem Ausstieg aus der Atomvereinbarung mit Iran verhängt wurden, hatten erhebliche Auswirkungen auf diese Finanzinfrastrukturen.

 

„Wir müssen verhindern, dass ein Drittland unsere Finanzsysteme zwingen kann, seine einseitig erlassenen Sanktionen anzuwenden.“

 

Es ist von entscheidender Bedeutung für die EU, die globale Reichweite dieser Mechanismen zu wahren und gleichzeitig die strategische Autonomie der EU besser zu schützen. Wir müssen verhindern, dass ein Drittland diese Systeme zwingen kann, seine einseitig erlassenen Sanktionen anzuwenden. Zu diesem Zweck wird die Kommission zusammen mit der EZB und anderen europäischen Aufsichtsbehörden Instrumente ermitteln, mit denen den Auswirkungen solcher rechtswidrigen Maßnahmen entgegengewirkt werden kann.

Unsere Instrumente sind derzeit nicht sehr wirksam

Unsere Mitgliedstaaten haben beispielsweise mit INSTEX (Instrument zur Unterstützung des Handelsaustauschs) seit 2019 ein europäisches Instrument zur Erleichterung legaler Handelszahlungen zwischen der EU und Iran entwickelt. Ich habe im vergangenen Jahr viel Zeit mit der Arbeit an diesem Instrument verbracht; allerdings ist es bisher nur begrenzt wirksam. Um den ununterbrochenen Fluss wesentlicher Finanzdienstleistungen zwischen der EU und ihren rechtmäßigen Handelspartnern sicherzustellen, werden wir sondieren, wie INSTEX rasch verbessert werden kann.

Seit 1996 verfügen wir auch über die sogenannte Blocking-Verordnung, um Sanktionen und anderen extraterritorialen Maßnahmen von Drittländern gegen europäische Unternehmen und Einzelpersonen entgegenzuwirken. Wir haben auch versucht, dieses Instrument im vergangenen Jahr einzusetzen, doch wir müssen einsehen, dass es bislang nicht sehr wirksam war. Wir werden zusätzliche Maßnahmen in Erwägung ziehen, um diese Praktiken anzugehen, einschließlich einer Reform dieser Verordnung.

 

„Wenn ein ausländisches Unternehmen versucht, die Kontrolle über ein EU-Unternehmen zu ergreifen, wird geprüft werden, ob dies nicht dazu führt, dass das europäische Unternehmen extraterritorialen Sanktionen unterliegt.“

 

Wir verfügen nun über den neuen Überprüfungsmechanismus, mit dem die Auswirkungen ausländischer Direktinvestitionen in der EU auf die Sicherheit und die öffentliche Ordnung bewertet werden. Wenn ein ausländisches Unternehmen versucht, die Kontrolle über ein EU-Unternehmen zu ergreifen, wird geprüft werden, ob dies nicht dazu führt, dass das europäische Unternehmen extraterritorialen Sanktionen unterliegt. Das könnte nämlich seine Fähigkeit gefährden, kritische Infrastrukturen in der EU zu erhalten oder eine kontinuierliche Versorgung mit wichtigen Vorleistungen sicherzustellen.

Schließlich müssen wir auch unsere internationale Zusammenarbeit zu Sanktionen und Extraterritorialität verstärken, insbesondere mit den G7‑Ländern. Der Beginn der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden könnte eine Gelegenheit sein, ein neues Kapitel in diesem Dossier zu eröffnen, und ich werde mich voll und ganz dafür einsetzen.

 

„Wir müssen unsere internationale Zusammenarbeit zu Sanktionen und Extraterritorialität stärken. Der Beginn der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden könnte eine Gelegenheit sein, ein neues Kapitel in diesem Dossier zu eröffnen.“

 

Renommierte Wirtschaftswissenschaftler wie Larry Summers, ehemaliger US-Finanzminister, oder Maurice Obstfeld, ehemaliger Chefökonom des IWF, haben empfohlen, die Dominanz des Dollar als Sanktionsinstrument nicht mehr auszunutzen (externer Link), außer wenn ein sehr breiter multilateraler Konsens darüber herrscht. Zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler und Beobachter haben darauf hingewiesen, dass die Vorherrschaft des Dollar als internationale Währung zwar kurzfristig nicht unmittelbar auf dem Spiel steht, der Missbrauch dieser Stellung die internationale Rolle der US‑Währung auf lange Sicht jedoch erheblich gefährden könnte.

Was die Verbesserung der strategischen Autonomie der EU betrifft, so ist der währungs- und finanzpolitische Bereich zu einem wichtigen Handlungsfeld geworden. Mit dem Euro verfügen wir über ein leistungsfähiges Instrument, um unsere wirtschaftliche Souveränität zu steigern, wenn wir in der Lage sind, es klug und wirksam einzusetzen. Dies muss ein fester Bestandteil unserer globalen Außen- und Sicherheitspolitik werden.

 

 

 

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