Herausforderungen im westlichen Mittelmeerraum

27/10/2020 – Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten – Der westliche Mittelmeerraum ist und bleibt für Europa von zentraler Bedeutung. Damit die Bande zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers sich jedoch für alle Beteiligten lohnend entwickeln, müssen wir gemeinsam die Kluft überwinden, die sich immer mehr auftut, insbesondere in Wirtschaftsfragen.

„Damit die Bande zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers sich für alle Beteiligten lohnend entwickeln, müssen wir gemeinsam die Kluft überwinden, die sich immer mehr auftut. “

Letzte Woche wurde ich eingeladen, an einem Treffen der Außenminister der Gruppe der Fünf plus Fünf Westliches Mittelmeer teilzunehmen. In diesem Rahmen treten seit nunmehr 30 Jahren fünf EU-Mitgliedstaaten – Spanien, Frankreich, Italien, Malta und Portugal – und fünf Länder des südlichen Mittelmeerraums – Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien – zusammen.

Es handelt sich hier zwar um ein informelles Format, doch es ermöglicht die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Blickwinkel und die Entwicklung von Partnerschaften um das westliche Mittelmeer, eine Region, der in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union eine tragende Rolle zukommt.

 

Zunehmende Kluft zwischen der Union und dem Maghreb

Wie meine Kollegen bei diesem Treffen die aktuellen Schwierigkeiten der Länder des südlichen Mittelmeerraums beschrieben, war eindrucksvoll. Das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Seiten des uns gemeinsamen Meeres ist bereits beträchtlich und wächst weiter an. Im Vergleich zur Europäischen Union kommen die fünf Länder des südlichen Mittelmeers mit 102 Millionen Einwohnern auf knapp ein Viertel der Bevölkerung, doch nur auf ein Sechzigstel des BIP. Mit anderen Worten liegt der pro Einwohner generierte Wohlstand in Europa 13 Mal höher. Selbst wenn man diesen Unterschied um das Preisniveau bereinigt, das auf der anderen Seite des Mittelmeers deutlich niedriger ist, bleibt ein Gefälle des Lebensstandards, das sich auf nahezu eins zu fünf beziffern lässt.

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Zudem hat sich der Aufholprozess, der bis Mitte der 2000er Jahre zu beobachten war, inzwischen umgekehrt: Der durchschnittliche Lebensstandard der Einwohner der fünf Länder im südlichen Mittelmeerraum war 2005 dreimal niedriger als der der Europäer und ist heute fast fünfmal niedriger.

Dynamische Demografie

Diese Stagnation des Lebensstandards liegt nicht schlicht an der schwierigen wirtschaftlichen Lage südlich des Mittelmeers, sondern auch an der dynamischen Demografie: Von 1990 bis 2019 kam es in den fünf Ländern des Maghreb zu einem Bevölkerungswachstum von 57 %, gegenüber 6 % in der Union. Die Volkswirtschaften konnten mit diesem Tempo nicht Schritt halten.  

Darüber hinaus beziehen sich diese Zahlen auf das Jahr 2019. Im Jahr 2020 hat die COVID-19-Pandemie die Volkswirtschaften Marokkos und Tunesiens in ihren Grundfesten erschüttert: Sie sind stark vom Tourismus, der Zulieferindustrie für den Automobilsektor und der Textilindustrie abhängig. Die algerische Volkswirtschaft ist ihrerseits stark vom Einbruch der Preise und der Verkaufsmengen von Kohlenwasserstoffen betroffen. Sämtliche Länder der Region leiden außerdem unter dem krisenbedingten drastischen Rückgang der Geldtransfers aus Europa von den dort lebenden Auswanderern.

 

„Die COVID-19-Pandemie unterscheidet nicht zwischen Nord und Süd: Die am stärksten betroffenen Länder des Nordens befinden sich im Süden Europas, und die am stärksten betroffenen Länder des Südens im Norden Afrikas.“ Nasser Bourita, marokkanischer Außenminister. “

 

Wie mein Kollege, der marokkanische Außenminister Nasser Bourita, bei unserem Treffen richtig beobachtet hat: „Die COVID-19-Pandemie hat den westlichen Mittelmeerraum hart getroffen. Sie unterscheidet nicht zwischen Nord und Süd: Die am stärksten betroffenen Länder des Nordens befinden sich im Süden Europas, und die am stärksten betroffenen Länder des Südens im Norden Afrikas.“

Solange der Lebensstandard südlich des Mittelmeers stagniert und die Kluft zwischen beiden Seiten immer größer wird, wird es schwierig, die zunehmende politische und soziale Instabilität jenseits des Meeres und auch die Migrationsbewegungen nach Europa zu verhindern. Daher liegt es im Interesse Europas, aktiv dazu beizutragen, diese Entwicklungen umzukehren, selbstverständlich immer unter Achtung der Souveränität der betreffenden Staaten.

 

„Die erheblichen Probleme der Region hängen auch und vor allem mit den Gebieten außerhalb des Maghreb zusammen. Diese sind noch in besonders geringem Maße wirtschaftlich integriert. “

 

Die Ursachen dieser erheblichen Probleme sind vielfältig. Sie hängen jedoch in hohem Maße mit den Gebieten außerhalb des Maghreb zusammen. Die wirtschaftliche Integration dieser Region ist im weltweiten Vergleich besonders gering: Der Handel zwischen den Ländern des Maghreb wird auf ein Viertel des potenziellen Umfangs geschätzt. 2012 hatten wir eine breite Maßnahmenpalette vorgeschlagen, um die regionale Integration zu begünstigen und eine engere Zusammenarbeit mit der EU zu fördern.

Anhaltende Konflikte

Acht Jahre später sind die bilateralen Beziehungen ausgereifter und die Kooperation wurde auf grundlegende Fragen wie den Klimawandel ausgeweitet. Dennoch hat der betriebene Aufwand nur in begrenztem Maße zum Erfolg geführt. Die andauernden Konflikte und die unterschiedlich gelagerten Interessen der Länder der Region haben die Kooperationsbemühungen überlagert, die zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen unternommen wurden. So konnte den Erwartungen der stetig anwachsenden jungen und gut ausgebildeten Bevölkerung nicht entsprochen werden. 

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Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Handelsbeziehungen mit Europa nicht entwickelt haben. In den letzten zehn Jahren sind sie vielmehr erheblich zurückgegangen. Der Handel mit diesen Ländern macht derzeit nur etwa 3 % des gesamten Außenhandels der EU aus. Die Ausfuhren der EU in die Vereinigten Staaten liegen etwa acht Mal höher als die in den Maghreb.

Umkehr der Dynamik

Es muss uns unbedingt gelingen, diese Dynamik gemeinsam umzukehren, damit auf beiden Seiten des Mittelmeers die digitale, nachhaltige und gerechte Überwindung der COVID-19-Krise gelingt. Unsere Zusammenarbeit mit dem Maghreb entwickelt sich in einem zunehmend unsicheren und sogar von Konflikten geprägten internationalen Kontext: Rückverlagerungen und wirtschaftliche Souveränität sind auf der ganzen Welt zu einem vorherrschenden Thema geworden.

„Europa wird sich nicht in sein Schneckenhaus zurückziehen. Dass wir größere wirtschaftliche Souveränität zurückerlangen wollen, kann für den Maghreb eine Chance sein. “

Dass wir größere wirtschaftliche Souveränität zurückerlangen wollen, kann für die Entwicklung im Maghreb jedoch eine Chance sein. Europa wird sich nicht in sein Schneckenhaus zurückziehen: Gemeinsam mit unseren direkten Nachbarn wollen wir Wohlstand schaffen, Nutzen daraus ziehen, dass wir uns gegenseitig ergänzen und zusammen sowohl unseren Lebensstandard als auch unsere Beschäftigungslage verbessern. Doch es bleibt viel zu tun, insbesondere was politische und wirtschaftliche Reformen betrifft, um Investoren aus dem Ausland in die Maghreb-Länder zu holen.

Zunehmende politische und sicherheitspolitische Instabilität

Diese andauernden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen gehen mit zunehmender politischer Instabilität einher, die sich insbesondere in inneren Konflikten in Libyen und der Ausbreitung des islamischen Terrorismus in der gesamten Sahelzone niedergeschlagen hat. Aus diesem Grund hat die Union die Zusammenarbeit mit der Region in Sicherheitsfragen vertieft.

Algerien, Tunesien und Marokko beteiligen sich an mehreren europäischen Programmen zur Terrorismusbekämpfung. Auch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen wird weiter zusammengearbeitet. Neben den Ländern der Region engagiert sich nun auch die Union aktiv im UN-geführten Berliner Prozess für Libyen, um dort wieder für Frieden und Stabilität zu sorgen. Im März hat die EU die Operation IRINI ins Leben gerufen, um zur Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Waffenembargos beizutragen, aber auch um Schmuggel und Menschenhandel zu unterbinden.

 

„Die jüngsten Entwicklungen in Libyen sind positiv: Der Verhandlungsweg scheint das Mittel der Wahl zu sein, vor allem dank der Bemühungen der Maghreb-Länder. “

 

Die jüngsten Entwicklungen in Libyen sind positiv: Der Verhandlungsweg scheint das Mittel der Wahl zu sein, vor allem dank der Bemühungen der Maghreb-Länder. Er wird von Erfolg gekrönt, wenn es den Menschen in Libyen gelingt, selbst Lösungen zu finden. Die Vereinten Nationen und die Europäische Union werden ihre Kompromissbemühungen in vollem Umfang unterstützen. Natürlich sind wir uns dennoch der sicherheitspolitischen Herausforderungen bewusst, die langfristig nur bewältigt werden können, wenn gleichzeitig ihre strukturellen Ursachen durch tief greifende politische und sozioökonomische Reformen angegangen werden.

Geordnete Migration

Die Gesellschaft und Bevölkerung unserer Länder sind eng miteinander verbunden, Millionen Menschen aus dem Maghreb leben rechtmäßig in den Ländern der Europäischen Union. Diese Länder sind auch einem Migrationsdruck aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara ausgesetzt. Wir müssen unsere Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern noch verstärken, um sicherzustellen, dass diese Migrationsbewegungen kontrolliert verlaufen. Das ist das Ziel der Migrationsdialoge, die wir mit den Ländern des Maghreb auf der Grundlage der bereits bestehenden engen Kooperation in diesem Bereich aufbauen wollen. 

Durch dieses informelle Treffen kann ich nun besser begreifen, mit welchen erheblichen Schwierigkeiten sich unsere Nachbarn im südlichen Mittelmeerraum derzeit konfrontiert sehen und wie viel von der Entwicklung unserer Beziehungen abhängt. Dennoch war es nur ein erster Schritt vor einem anderen wichtigen Ereignis: dem Regionalforum der Union für den Mittelmeerraum am 27. November.

Der 27. November: 25 Jahre Barcelona-Prozess

Der Prozess für die regionale Zusammenarbeit, auch Barcelona-Prozess, besteht inzwischen seit 25 Jahren, und wir werden nun mit unseren Partnern aus dem gesamten Mittelmeerraum Bilanz ziehen. Bei dieser Gelegenheit wird die Union erneut bekräftigen, dass sie entschlossen ist, den Mittelmeerraum zu einer sichereren, wohlhabenderen und stabileren Region zu machen. Dabei bin ich mir durchaus im Klaren darüber, dass die in diesem Sinne seit einem Vierteljahrhundert unternommenen Anstrengungen nur in begrenztem Maße zu Ergebnissen geführt haben und dass hier in den kommenden Monaten eine besonders schwierige Aufgabe vor uns liegt.

 

 

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